VISION 20003/2014
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Zur Dankbarkeit lassen sich Brücken bauen

Artikel drucken Ein erfahrener Seelsorger über eine Haltung, die heute vielen schwerfällt

Heute tun sich viele Menschen  schwer mit der Dankbarkeit – so die Diagnose eines erfahrenen Seelsorgers. Aber es gibt Wege, selbst in schwierigen Lebenssituationen einen Zugang zu dieser Haltung zu vermitteln. Anregende Gedanken für alle, die Freude suchen und zu dieser verhelfen wollen.

Begegnet Ihnen Dankbarkeit häufig in Ihrer seelsorglichen Tätigkeit?
Peter Dyckhoff: Heute begegnet sie mir weniger oft als früher. Genau genommen: relativ wenig. Das bedeutet nicht, dass die Menschen, für die ich arbeite – letztlich tue ich es allerdings für den Herrn – nicht dankbar sind. Sie können es irgendwie nicht äußern.

Leben wir nicht überhaupt in einer Zeit, in der sich Menschen mit der Dankbarkeit schwer tun? Ist man heute nicht irgendwie daran gewöhnt, Ansprüche erfüllt zu bekommen?
Dyckhoff: Ja. Die Dankbarkeit hat generell abgenommen. Viele meinen ja, sie hätten – auch was die kirchlichen Dienste angeht durch ihre Kirchensteuerzahlung – einen Anspruch auf Leistungen. Ich denke da an früher: Meine Mutter nahm mich zum Einkaufen mit. In den Geschäften standen Menschen hinter dem Ladentisch. Beim Einkauf war da immer eine Hand, die etwas gab – mir etwa eine Scheibe Wurst oder ein Bonbon. Wenn ich dann nicht „Danke“ sagte, hörte ich Mutter: „Was sagt man denn?“ So wusste ich allmählich, dass man „Danke“ sagt. Als Kind ist man also viel mehr im Bewusstsein aufgewachsen, dass ich von anderen bekomme, dass ich mein Leben, mein Sein anderen verdanke – letztlich dem Herrgott, dem Schöpfer.
Genau diese Beziehung gibt es heute nicht mehr. Wenn ich die Welt jetzt beobachte, so läuft es ganz anders: In den Discount-Läden, in denen fast alles zu haben ist, wo auf hunderten Metern Waren aufgestellt sind und jeder sich einfach von den Waren nimmt, so bekommen das auch die Kinder mit. Sie nehmen sich, schließlich ist ja bei der Kasse alles sorgsam in Höhe der Kinderaugen aufgebaut – und die Mutter lässt das zu. Oder die Automaten: Da bedient man sich. In vielen Lebenssituationen erlebt man heute gar kein Du mehr. Insofern darf man heranwachsenden Kindern gar keinen Vorwurf machen, wenn sie nicht dankbar sind. Sie haben eben gelernt, einfach zu nehmen. Außerdem haben viele gar keine Not kennengelernt. Auch das bestärkt das Bewusstsein, dass die Dinge eben selbstverständlich geregelt ablaufen…

Dass alles gut zu funktionieren hat, gehört offenbar heute zum Selbstverständnis des Menschen. Aber kaum laufen die Dinge nicht mehr so, wie erwartet, neigt man dazu zu klagen…
Dyckhoff: Ja, das ist natürlich eine Haltung, die man nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen findet. Sie sagen dann: Ich habe schließlich bezahlt, zahle Steuern, folglich habe ich einen Anspruch. Darum kommt es ja oft vor, dass Menschen, deren Erwartungen nicht erfüllt werden, zu schimpfen beginnen, ja sogar aggressiv werden. Daher wäre es so wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen: Hinter jedem Automaten, hinter jedem funktionierenden System steckt ja nicht nur ein gedachter Ablauf, sondern dahinter stecken ja auch Menschen, die all das eingerichtet haben, es pflegen, warten… Wenn ich also hinter diese automatisierte Welt hindurch denke, hindurch fühle, komme ich ja wieder zu Menschen. Nur ist der Kontakt zu diesen eben unterbrochen. Und daher ist es auch so schwierig, Kinder auf das Du Gottes hinzuweisen, wenn Ihnen das Du in der Mitmenschlichkeit genommen ist oder fehlt. Daher die viele Unzufriedenheit, die Aufsässigkeit. Lehrer können davon erzählen, was ihnen alles geschieht. Auch in der Kirche kann man solche Erfahrungen machen…

Gibt es Wege, Menschen zur Dankbarkeit hinzuführen?
Dyckhoff: Was kann man tun? Wenn Menschen über dieses oder jenes etwa in ihrer Familie klagen, versuche ich in Gesprächen aufzuzeigen oder durch Fragen herauszubekommen, was der Betreffende doch auch alles empfängt. Inwiefern es ihm doch auch gut geht. Damit herauskommt, dass er in den letzten 20, 30 oder 40 Jahren doch auch sehr viel Gutes empfangen hat: dass vieles in der Ehe schön war, dass beruflich doch auch einiges an Erfolg da war, dass lange gesunde Jahre hinter der Person liegen… Ich versuche das zu dem, was meinen Gesprächspartner bedrückt, in Beziehung zu setzen und zu zeigen: „Das alles hast du bekommen, hat dir der Herrgott zukommen lassen…“ Ist das nicht auch Grund, für all das Dank zu sagen? Auch Hiob sagt: Ich habe das Gute angenommen, muss ich da nicht vorübergehend auch das Dunkle und Schlechte tragen können?
Solche Gespräche ergeben sich, wenn Menschen an eine Grenze stoßen: etwa eine todbringende Diagnose gestellt wird, man eine schwere Krankheit, einen schweren Unfall oder einen Menschen verloren hat. Als Priester kommt man oft mit Menschen in solchen Situationen – gerade auch mit Sterbenden – in Berührung. Da offenbart sich dann oft eine Offenheit für die Wahrheit, in die man die Einsicht einfließen lassen kann: War dieses Leben, das du jetzt so bedroht siehst, das du jetzt dem Herrgott zurückgibst, war es nicht auch ein Geschenk? Hat da nicht doch das Gute vorgeherrscht? Gehen wir doch einmal die guten Stationen durch! Führt sich dann jemand diese gu­ten Lebensphasen und Momente vor Augen, steht oft von selbst die Frage auf: Gebührt dem Herrgott für all das nicht auch Dank?

Ist nicht gerade in solchen Situationen die Versuchung groß zu hadern und zu sagen: In dieser Misere soll ich Gott auch noch dankbar sein?!
Dyckhoff: Natürlich gibt es das, dass ein Mensch so empfindet, dass er opponiert und erklärt: Von Dankbarkeit kann da wirklich keine Rede sein! Wie komme ich dazu, so ein Schicksal zu tragen? Dann muss man eben als Begleiter, als Seelsorger noch bescheidener werden, ihm die Möglichkeit geben, ausführlich seine ganze Last zu äußern. Dann wird vielleicht deutlich, warum das eine oder andere so eingetreten ist. Das braucht viel, sehr viel Zeit. Ein Seelsorger sollte sich ja um die Seele der Gläubigen kümmern, für sie offen sein, für sie Zeit haben, statt irgendwelchen Gremien vorzusitzen.

Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass man in solchen Situationen Brücken zur Dankbarkeit bauen kann?
Dyckhoff: Wenn man sich wirklich Zeit nimmt, kann man immer Brücken bauen. Das bedeutet, den anderen und sein Schicksal in den Mittelpunkt zu stellen. Da darf man nicht auf die Uhr schauen, denn das könnte sehr verletzen. Da heißt es, sich in die Seele des anderen einzufühlen. Dann werden viele Menschen hellhörig. Sie nehmen ihre Aggression zurück. Sie wird dabei nicht verdrängt, sondern tritt einfach in den Hintergrund und ist bald nicht mehr präsent. Dann kann man erfahren, dass etwas Liebevolles zu fließen beginnt, Liebe zu Liebe, vom Du zum Du. Da sind wir wieder bei der Du-Beziehung, von der wir gesprochen haben. In der hektischen, lauten Welt von heute allerdings ist das schwierig, weil man die leise Sprache Gottes oft überhört. Aber genau hier sind wir bei dem, wozu die Seelsorge berufen ist, eine Aufgabe, die selten so groß war wie jetzt. Auf diesem Weg kann es gelingen, den Menschen dort zu berühren, wo er berührbar ist.

Eine große Herausforderung, wenn ich Sie richtig verstehe…
Dyckhoff: Darin besteht die Kunst eines seelsorglichen Gespräches: Den Menschen da zu berühren, wo seine Wunde ist. Denn viele Menschen haben – zum Teil starke – seelische Wunden. Sie sind nicht zuletzt auch durch die Kirche verletzt, durch Geistliche. Wenn all das zur Sprache kommen kann und wenn diese Aussprache dann noch in das Sakrament der Versöhnung mündet, dann wächst Heil. Der Mensch spürt: Das Gute ist da, es siegt, ich kann es auch in meinem Leben in den Blick nehmen – und eventuell auch dankbar sein: meinen Eltern, meinem Lehrer, meinem Vorgesetzten, meinen Kindern… Ja, letztlich meinem Herrgott, der mir diese Kinder, diesen hervorragenden Chirurgen geschickt hat. Letztlich steht doch Gottes Plan, Seine Vorsehung dahinter.
Dazu muss ich allerdings bereit sein, von einem sehr negativen Aspekt die Brücke zum Licht, zum Heil zu bauen. Und dann fließt oft alles ganz von selbst. Mag sein, dass eine verrostete Tür schwer zu öffnen ist. Sobald sie aber auch nur einen Spalt weit aufgeht, dringt Licht in die Seele des Menschen. Und dann geht der Mensch diesen Weg allein, vielleicht geführt durch seinen Schutzengel, durch seine verstorbenen Verwandten, aber letztlich durch die Liebe, die Gnade, die Vorsehung Gottes. Dann kann ich erleben, dass dieser Mensch ohne mein Zutun in neuer Dankbarkeit wächst…

Mit Pfarrer Dr. Peter Dyckhoff sprach Christof Gaspari.
Über Dr. Dyckhoff: Studium der Psychologie, später Geschäftsführer in einem mittelständischen Unternehmen, spät berufener Priester (1981), tätig in der Wallfahts-und Krankenhausseelsorge, später Leiter eines Bildungshauses, Autor zahlreicher, erfolgreicher Bücher (zuletzt Maria bereitet uns den Weg, Besprechung in der nächsten Ausgabe), gesuchter Seelenführer.  

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