VISION 20003/2014
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Alles überlebt mit Seiner Hilfe

Artikel drucken Herbert Killian und ein paar Ohrfeigen, die ihm Jahre im sibirischen Gulag eingebracht haben (Von Alexa Gaspari)

Bei seinen Vorträgen in Schulen, so habe ich unlängst gehört, sind die Jugendlichen von Herbert Killians Erzählungen tief berührt. Auch bei der Lektüre der drei Bücher, die er über sein Leben geschrieben hat, ergeht es einem ähnlich. Ich konnte das Werk kaum aus der Hand legen, nicht nur wegen der Schilderung seiner Leiden im sibirischen Gulag – Hunger, Miss­­handlungen und Kälte hätten ihn fast das Leben gekostet –, sondern weil er auch erzählt, dass er weder dem russischen Volk gegenüber noch den Menschen, die ihm all dies zugefügt haben, Hass oder Verachtung empfindet. Im Gegenteil: Man erfährt von tiefen Freundschaften, großzügiger Gastfreundschaft, intensiven Glaubenserfahrungen und liest von den Schönheiten des Landes, in dem er trotz allem „zarte Wurzeln geschlagen“ hat. Unlängst habe ich ihn zu Hause im 13. Wiener Bezirk, wo er gemeinsam mit seiner Frau Anny wohnt, besucht.
Er erzählte mir, dass er in Korneuburg zur Welt gekommen ist. Sein Vater war Gymnasiallehrer, die Mutter bei den drei Kindern zu Hause. Es wird ein Gewohnheits­christentum gelebt: sonntags in die Kirche, aber nicht mehr. Im Herbst 1943 wird Herbert wie viele andere in den letzten Kriegsjahren mit 15 zu den Luftwaffenhelfern einberufen. Da er kein begeisterter Schüler ist, ist er stolz, wie ein Erwachsener sein Land verteidigen zu dürfen. Sein erster Einsatz: Vier Monate bei der Fliegerabwehr in Wr. Neustadt. Bomberverbände fliegen über ihn hinweg: Ringsum explodieren Bomben. Kameraden lassen ihr Leben für „Volk und Vaterland“.
Dramatisch geht es weiter bis  er im Winter 1944 an der Westfront kämpft. Vor dem letzten Fußmarsch an die Front stiehlt ihm jemand in der Nacht seine Maschinenpistole. Stattdessen bekommt er einen nutzlosen Karabiner. Da liegt er nun in einem Schützenloch. Plötzlich ruft sein Kamerad: „Die Amerikaner kommen!“ Was machen? Mit der Maschinenpistole hätte er jetzt  geschossen.... und wäre vielleicht selbst erschossen worden. So bedeutet ihm der Nachbar, das Gewehr liegen zu lassen. „Ich bin froh, dass mir auch erspart wurde auf einen Menschen schießen zu müssen,“dankt er heute Gott.
So aber kommt er in amerikanische Gefangenschaft in Frankreich. Er unternimmt zwei Fluchtversuche, der zweite gelingt. Spannender als jeder Krimi liest sich die entbehrungsreiche Zeit quer durch Frankreich und Deutschland. Der Schutzengel behütet ihn auf unglaubliche Weise. Im Juli 1945 gelingt es ihm, sich mit einem fremden Passierschein nach Korneuburg durchzuschlagen.
Jetzt hat er erstmals Kontakte auch mit den Russen. In schrecklicher Erinnerung sind ihm die durchdringenden Schreie vergewaltigter Frauen, in den Nächten weithin zu hören. Was findet er zu Hause vor? Die elterliche Wohnung von Kommunisten besetzt, die Eltern ins Waldviertel geflüchtet, nur die Schwester noch in Korneuburg, ihr Mann in Polen gefallen, der Bruder in amerikanischer Gefangenschaft. Da der Heimkehrer ja noch nicht mit der Schule fertig ist, geht er wieder ins Gymnasium. Im Mai 1947 macht er die schriftliche Matura.
Im Juni – er bereitet sich gerade auf die Mündliche vor – ereignet sich ein an sich unspektakulärer Vorfall, der schreckliche Folgen haben wird: Vor dem Haus hört man Schreie. Söhne russischer Offiziere verdreschen Kinder aus Killians Wohnhaus. Nachdem der Maturant sie zunächst verjagt, werfen sie daraufhin Steine auf seine Fenster: „Dazu muss ich sagen, dass der Russenhass aus der NS-Zeit nach wie vor in mir war. Was ich an Mord, Stehlen und Vergewaltigungen der Russen erlebt hatte, seit ich aus der Gefangenschaft zurück war, bestätigte ungefähr, was sie uns immer von russischen „Untermenschen“ erzählt hatten. Das hat diesen Hass natürlich geschürt.“
Killian eilt also hinunter, schnappt sich einen der Burschen und versetzt ihm drei Ohrfeigen. Russische Soldaten, die vor der nahen Kaserne patrouillieren, stürzen herbei, schlagen ihn so zusammen, dass er blutend liegenbleibt. Dann schleifen sie ihn auf die Kommandantur. In deren Keller wird er in den nächsten 24 Stunden zehnmal von Soldaten brutal verdroschen: „Dreimal habe ich das Bewusstsein verloren. Auch einige Zähne sind draufgegangen, als ich am Boden lag und sie mit Stiefeln nach mir getreten haben,“ erinnert er sich an dieses unvergessliche Geschehen.
Schließlich landet er im Polizeigefängnis in Wien. Drei Wochen später das Urteil: Drei Jahre Gefängnis wegen Rowdytums. Es heißt, er würde diese Zeit wohl in Wien absitzen können. Doch es kommt anders: acht Wochen verbringt er mit vier kriminellen Russen, von denen er geprügelt wird, in einem Gefängnis in Sopron. Er darf nur unter der Pritsche, ohne Decke, liegen. Hier spürt er erstmalig das Verlangen nach Religion, nach einer Bibel, den Wunsch, mit jemandem darüber reden zu können. Er beschließt, nach seiner Rückkehr einen geistlichen Beruf zu ergreifen. Diese Vorstellung wandelt seine Verzweiflung in innere Zufriedenheit, „sogar in ein Glücksgefühl“. Diese seelische Kraft verlässt ihn auch in den nächsten Jahren nie ganz.
Von Sopron geht es nach Lemberg und schließlich sechs Wochen lang in einem Güterzug – zusammengepfercht mit 9 Österreichern (sie vermitteln ihm Heimatgefühle, geben Trost und Halt), 11 Ungarn und 60 kriminellen Russen – in den äußersten Osten Asiens. Zunächst drei Tage kein Wasser, kein Essen. Schließlich gibt es pro Tag einen halber Liter Wasser für 10 Mann!! Die Kriminellen terrorisieren ihre Umgebung. Es geht um’s nackte Überleben. Unmöglich all die Brutalitäten und Entbehrungen zu schildern. Schließlich werden die Gefangenen auf ein Frachtschiff verladen: 5.000 Mann im Laderaum, Windstärke 9 bis 10. Nach zwei Tagen bekommt Killian – wie viele andere auch – die Ruhr: also höllische Schmerzen und schwere Durchfälle. Es gibt nur einen Abort, einen Holzverschlag weit oben, über eine steile Leiter zu erreichen, außerhalb der Reling angebracht. Von tosenden Wellen umbraust, heißt es, sich festzuklammern, sonst ist man über Bord. Täglich werden Tote über Bord geworfen.
Killian überlebt, ist jedoch nach der Ankunft Ende Oktober im Hafen von Magadan, der Hauptstadt von Kolyma, dem „Land ohne Wiederkehr“- am Ende der Welt, gegenüber von Alaska -, zu schwach zum Gehen. Kameraden schleppen ihn in die Krankenbaracke: über 39 Grad Fieber. Beim Weitertransport ins 450 km entfernte Zentralkrankenhaus in einem zugigen Lastauto (bei 45° minus) gibt es wieder Tote. Die österreichischen Kameraden hat er mittlerweile verloren. Nun ist er nur mehr unter Russen, deren Sprache er nicht versteht – unter lauter Kriminellen, Mördern, Räubern, da auch sein Vergehen unter „kriminell“ läuft.
„Im Krankenhaus gab es keine herkömmlichen Medikamente. Ein Arzt – ein Russe, der wegen eines einjährigen Studiums in Wien zu 10 Jahren Sibirien verurteilt worden war!! – gab uns Jodinjektionen gegen die Ruhr: sehr schmerzhaft, aber wirksam. Er hat mir das Leben gerettet. Manche wollten aber gar nicht gerettet werden. Sie haben Seife gegessen, damit der Durchfall nicht vergeht und sind dann daran gestorben,“ erzählt mir mein Gegenüber. Wenig zu essen und der Mangel an Vitamin C bescheren ihm zusätzlich Skorbut: Die Zähne lockern sich gefährlich. Ein Feldscher heilt ihn mit einem Hausmittel: den Nadeln der Zwerg-Zirbelkiefer.
Alles Beweise, dass Gott ihn nie verlassen hat. So auch die Begegnung im Krankenhaus mit „Vater Herbst“, einem herzkranken Buchhändler aus Riga. Weil er Deutscher ist, war er wegen Spionage verurteilt worden. „Er hat mir die Augen geöffnet, als er mir gesagt hat: ‚Du darfst das nicht als Strafe ansehen, Gott hat uns eine Prüfung auferlegt. Es ist ein Geschenk. Stell nie die Frage: Warum gerade ich? Wer so fragt, ist am falschen Weg. Er wird stets mit Gott und seinem Schicksal hadern, nie glücklich werden können.’ Mit ihm konnte ich intensive Glaubensgespräche führen. Das war ein wunderbares Geschenk für mich.“ Hoffnung und Kraft schöpft er aus den Worten des bibelkundigen Mannes: Das Schlimmste, so hatte ihm Vater Herbst klar gemacht, sei es, in Hoffnungslosigkeit zu versinken.
Gründe dafür gab es jedoch genug, denn nach 3,5 Monaten im Krankenhaus wird er nach der üblichen Fleischbeschau – ein Oberleutnant geht durch die Reihen der splitternackten Gefangenen und prüft mit Griff auf das Hinterteil, ob schon ein Fettansatz vorhanden ist – als gesund genug angesehen, um in ein Goldlager abtransportiert zu werden – was fast einem Todesurteil gleichkommt. Vater Herbst spricht ihm Mut zu, macht ihm Hoffnung: Gott werde ihm Kraft geben, das Leiden zu ertragen, es ihm auch wieder nehmen. Er müsse nur zum Licht, dann würde kein Sturm ihn brechen können. „Sein tiefer Glaube war mir Wegweiser für mein ganzes Leben,“ stellt Killian fest.
Nach 30 Kilometern Marsch erreicht die Gruppe völlig erschöpfter Gefangener das Goldschürflager, den Gulag. Killian beschreibt die Lebens­umstände: „Neun Monate Winter, trockene Kälte, vier Monate Temperaturen von -50° bis -60°. Viele Bodenschätze: Gold, Silber, Diamanten, Uran, Eisen und Kohle. Da man keine normalen Bürger bei diesen Temperaturen arbeiten lassen wollte, kamen seit 1932 hier Gefangene zum Einsatz.“ Ein schlecht abgedichtetes Blockhaus – an den Wänden Eis – und eine Holzpritsche mit einer dünnen Schicht von altem, stinkendem Heu wird sein neues Zuhause. Seine neuen „Freunde“: kleine schwarze Wesen. In langen Reihen ziehen sie über seinem Kopf dahin und lassen sich auf der Suche nach Nahrung zielsicher auf ihn herunterfallen: Wanzen.
Bei -60° geht es nun jeden Morgen zum Schürfplatz. Mit einem stumpfen Brecheisen soll er, auf der Suche nach Gold Löcher in den steinhart gefrorenen Boden schlagen. „Du machen, sonst nix Essen, nix Brot!“, heißt es. Schon nach wenigen Minuten bleiben Hand und Hemd am Eis der Stange kleben. Es sind die ersten von vielen großen, schmerzhaften Wasserblasen, die er sich in den nächsten Jahren zuziehen wird. Das Arbeitssoll ist, vor allem für Neuankömmlinge, lange Zeit unerfüllbar. So gibt es Fußtritte, weniger oder kein Essen, Flüche. Am Abend völlige Erschöpfung.
Eines Tages rächt sich ein Wachposten, dem er nicht seine paar Gramm Machorka zum Rauchen abgetreten hat. Mit anderen landet er im Isolator: drei mal drei Meter ohne Fenster, vollgestopft mit Männern, nebeneinander, übereinander. Todesangst befällt Killian, er bekommt keine Luft, verliert immer wieder die Besinnung. Die Tortur endet erst am nächsten Tag.
Einmal gibt es vier Tage kein Brot. Da stopft man sich Gras und Blätter in den Mund, um für kurze Zeit die Magenkrämpfe in Schach zu halten. Der Hunger prägt das Leben: „Hunger kennt keine Angst vor neuer Infektion, keinen Ekel, keine Schranken,“ berichtet Killian aus verzweifelter Erfahrung. „Der Magen wird jedes Mal durch kleine Mengen gereizt, wenn man etwas isst. Er schläft nie ein. Dadurch hat man ständig extremes Hungergefühl: Der Mensch wird zum Tier. Das Brot, das wir bekamen, war wie Fensterkitt. Trotzdem: Die Hälfte der 40 bis 60 Deka Brot, der Tagesration, habe ich stets aufgehoben, um sie am Abend zu essen. Den ganzen Tag habe ich daran gedacht, dass ich abends noch etwas zu essen habe.“
Einmal im Sommer wird Killian zum Abladen von Ölfässern an den Fluss abkommandiert. In der Hoffnung, am Ende des Flusses das Meer und andere Schiffe zu finden, flüchtet er. Unterwegs ernährt er sich von Heidelbeeren und Pilzen. Die Folge: eine Vergiftung, Durchfall, Fieber, Erbrechen, Krämpfe. Er schleppt sich weiter. Beim Durchqueren eines Flusses verliert er seine Schuhe. Gestrüpp und scharfe Steine bescheren blutige Füße. In der unendlichen Landschaft weit und breit keine Menschenseele; Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit: Lieber wieder unfrei, als hier alleine zu verrecken. Inbrünstig betet er – und Friede kehrt in seine Seele ein. Er fühlt: Er ist nicht allein. Nach sechs Tagen Flucht sieht er einen Wachturm: vor dem Lagertor bricht er zusammen.
Killian schüttelt noch heute ungläubig den Kopf: „Dass ich in dieser unendlichen Taiga wieder zurück zum Lager gekommen bin, kann ich nicht erklären. Diese Flucht gehört zu den schlimmsten Erinnerungen. Da war ich an der Kippe, habe aber intensiv erlebt, dass man als junger Mensch nicht leicht sterben kann. Da werden Kräfte mobilisiert. Ich wollte unbedingt am Leben bleiben. Dank der Hilfe von oben ist es gelungen.“
Seine gesundheitliche Situation verschlechtert sich zunehmend. Schließlich wird er mit bedrohlicher Dystrophie ins Krankenrevier eingeliefert. Nach drei Wochen ist er wieder auf den Beinen und darf eine Weile als Sanitäter im Krankenhaus arbeiten.
Dann geht es in ein neues Lager. Wieder Schwerstarbeit: bei -50° im tiefen Schnee Zwerg-Zirbelkieferäste ausgraben, umhaken und von Nadeln befreien. Täglich 80 Kilo, sonst kein Essen am Abend. Ein Ding der Unmöglichkeit: Wasserblasen durch Erfrierung, zerrissene Wattestiefel, Leistung immer ungenügend, also bald kein Essen. Daher Ohnmacht, Nasenbluten: wieder körperlicher Verfall. Immer intensiver sucht er Hilfe bei Jesus.
Eines Tages arbeitet er bis in die Nacht. Der Sack ist zwar voll, er kann ihn aber nicht mehr tragen. Auf dem Weg ins Lager mehrere Ohnmachtsanfälle. Keiner glaubt ihm, dass er einen vollen Sack auf dem Berg liegen hat. Dennoch geht einer der Russen mit ihm, um den Sack zu holen, droht aber, ihn umzubringen, sollte die Geschichte erfunden sein. Wie soll man in dieser Schneelandschaft, in der Nacht irgendetwas finden? Killian sendet verzweifelte Stoßgebete zum Himmel – und Gott erhört ihn: Der Sack wird gefunden und Killian bekommt endlich ein Abendessen. Am nächsten Tag bringt man ihn nach fünf schrecklichen Wochen ins Krankenrevier: seine Körpertemperatur 34,7°, sein Gewicht 37 Kilo Gewicht bei 1,80 Meter Größe…
Immer wieder erzählt mir mein Gegenüber zwischendurch aber, wie Menschen ihm zu Hilfe eilen, obwohl sie Strafen riskieren. Und er berichtet von schönen Stunden, etwa mit dem Wiener Franz, ein Stück Heimat: „Eine durch das gemeinsame Schicksal entstandene Freundschaft, die unvergänglich ist und über den Tod hinaus lebt.“
Eines Tages heißt es endlich: „Killian, Sie können Ihre Sachen packen, bekommen morgen Ihre Entlassung. Für Ihre gute Arbeit werden Ihnen 26 Tage (von 3 Jahren) erlassen.“ „Nein, diese Großzügigkeit!“, denke ich.  Woran er denn noch besonders gelitten habe, frage ich. „Unter der Spionage. Man durfte niemandem trauen. Die Menschen waren um die eigene Freiheit, den eigenen Vorteil besorgt. Da sind viele zu allem fähig.“
Nach drei Jahren also endlich frei! Killian denkt, er könne nun nach Hause fahren. Bei der Polizei in Jagodnyi erfährt er jedoch, dass nur das Außenministerium in Moskau, ein Ausreisevisum genehmigen könne. Um das müsse er ansuchen. Eine Antwort könne aber Wochen, ja Monate dauern. Riesengroße Enttäuschung. Also muss er sich eine Unterkunft, eine Arbeit suchen. Um 400 Rubel im Monat wird er als Hilfssanitäter im Krankenhaus zum Putzen, Waschen, Säubern eingesetzt. Da nur wenige Patienten Besuch bekommen, bemüht er sich, für sie da zu sein, ihnen zuzuhören, sie zu trösten. Zu den Kollegen im Krankenhaus, mit denen er eine Baracke teilt, hat er ein gutes Verhältnis.
Bewegen darf er sich nur in einem Umkreis von 20 km. Auf Fluchtversuche würden bis zu 15 Jahre Strafe stehen. Und so engagiert er sich weiter bei der Pflege von Patienten, ist ein aufmerksamer Zuhörer, wenn die Leute von ihrem Schicksal erzählen. Er arbeitet auf der Gynäkologie, aber auch auf der Internen, wo die Obduktion von Mordopfern zu seinen Pflichten gehört. Mehrmals muss er sogar außerhalb des Spitals „ärztlich wirken“: etwa bei Vergiftungen durch Wetttrinken mit Spiritus (das gängige Getränk, 95% Alkohol) oder beim Verarzten von Wunden nach Raufereien. Solche Zwischenfälle würden den Betroffenen nämlich langjährige Strafe eintragen, würden sie offiziell im Spital behandelt. Als er sich selbst eine Gelbsucht einhandelt, wird er nun seinerseits vom Personal verwöhnt, so sehr schätzt man Killians liebevollen Umgang mit Patienten, Kollegen und Kameraden.
Trotz der vielen Ungerechtigkeiten und Qualen ist er nicht verbittert, hartherzig oder gewalttätig geworden, sondern entwickelt im Gegenteil ein besonderes Verständnis und Mitgefühl für seine Umgebung. Ein Patient borgt ihm sogar seinen größten Schatz: eine deutsche Bibel. Killian ist glücklich und schreibt sie während des Nachtdienstes ab. Leider fliegt das auf und kostet ihn fast Kopf und Kragen. Die Abschrift muss er abliefern.
Sein Verlangen nach geistiger und religiöser Betätigung bringt ihn noch einmal fast in des Teufels Küche, als er mehrmals zu einer esoterischen Sekte eingeladen wird. Schnell erkennt er den dort praktizierten Hokuspokus. Und so beschließt er, nicht mehr an den Treffen teilzunehmen. Am selben Tag fliegt die Sekte auf und die Teilnehmer werden zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Wieder hat ihn der Herr bewahrt!
1953 nach Stalins Tod vergehen noch sieben Monate, bis er endlich das Visum in Händen hält. Er kann es kaum fassen. Große Freude, aber auch die Frage, was ihn zu Hause erwarten wird. Er ist ein anderer geworden: zum Mann gereift, hat er zum Glauben an Christus gefunden. Die schwere Zeit voll Leid, Schmerz und Krankheit hat ihn für sein Leben geprägt.
Vor seiner Abreise erlebt er noch echte russische Gastfreundschaft von ehemaligen Gulag-Häftlingen. „Der Russe ist ein Mensch mit einer großen Seele, so groß wie sein Land. Er ist gastfreundlich, kann sehr lieb sein aber auch sehr grausam. Ich habe dort Freunde gefunden und meine Einstellung zum russischen Volk geändert.“
Endlich also Ausreise: Das Visum gilt fünf Wochen lang. 14.000 km Heimreise liegen vor ihm. Doch: Im letzten Schiff, das den Hafen verlässt, bevor das Meer zufriert, ist kein Platz. Also mit einem Flugzeug. Ja aber erst in drei Wochen, heißt es, was aber zu spät für ihn wäre. Jung und frech erklärt er dem Polizeichef, er sei österreichischer Staatsbürger (mittlerweile hatte er schon einen Pass) und Journalist und müsse zu einem Kongress nach Moskau. Der Polizist schaut sich den Pass an, entschuldigt sich – und er darf am selben Tag fliegen…Um über die Berge zu kommen, muss das Flugzeug erst  kreisen. Plötzlich: Rauchwolken und Trümmer unten am Boden. Das Flugzeug, das früher gestartet war, hat die Höhe nicht geschafft:  es ist abgestürzt. Wieder hat Gott die Hand über ihn gehalten.
 Am 9. November 1953, nach 6,5 Jahren, ist er wieder zu Hause. Die Reintegration ist schwer: „Darauf ist man nicht gefasst. Ich bin ja letzten Endes aus der österreichischen Mittelschicht in ein kriminelles Milieu in Russland gekommen. Das muss man erst verkraften. Jetzt kam ich zurück und war daheim ein Fremder. Gesellschaft und Kultur hatten sich gewandelt. Die Leute können das Erlebte nicht nachvollziehen…“ In der Nacht hat er Albträume. Viel hatte sich verändert: Der Vater weggezogen, der Bruder auch, nur die Schwester ist noch in Korneuburg. Die 80 km, „das Stückerl“ bis nach Horn zum Vater geht er zu Fuß. In Sibirien war das keine Entfernung gewesen.
Große Verunsicherung also, wie man sich zu verhalten hat. Am liebsten wäre ihm die Einsamkeit. Er denkt daran, Förster zu werden. Neun Monate arbeitet er in einem Forstbetrieb. In dieser Zeit lernt er in einem Geschäft Anny, seine spätere Frau, kennen. Sie gefällt ihm auf Anhieb. Schon im September 54 heiraten die Beiden und haben daher heuer 60. Hochzeitstag! Bald stellen sich zwei Buben ein. Mittlerweile hat Professor Killian drei Enkel und drei Urenkel.
Nachdem er den Forstbetrieb verlassen hatte, blieb er der Forstwirtschaft treu und wirkt fortan in der Forstlichen Bundesversuchsanstalt Mariabrunn. Die Entwicklung von Arbeitsmethoden und Werkzeugen sind sein Gebiet, zu dem er mehrere Bücher verfasst. Er beginnt nebenberuflich zu studieren: Geschichte und Volkskunde. Seine Frau ist im eine große Hilfe. Sie nimmt Vorlesungen mit dem Tonband auf und er lernt den Stoff in der Nacht. 1978 promoviert er an der Hochschule für Bodenkultur, lehrt dort später auch selbst: zunächst als Lehrbeauftragter, nach der Habilitation als Dozent und schließlich als Professor für Forstgeschichte.
50 Jahre nachdem er die Sowjetunion verlassen hatte, besucht er als erster Ex-Häftling aus dem Westen den Gulag, eine Reise in die Vergangenheit. Mit offenen Armen wird er von einem Mithäftling, einem russischen Professor empfangen. „Die russische Gastfreundschaft ist ja bekannt, unter Leidensgenossen aber kennt sie keine Grenzen.“ Er besucht alle Lager, in denen er gelitten hatte – und versucht, Jurij zu finden, den Buben, dem er die Ohrfeigen verpasst hatte. Und die Suche ist erfolgreich! Zunächst abweisend willigt der Russe ein, nach Österreich zu kommen. Nachdem alle behördlichen Hürden genommen sind, kommt es zur Begegnung: Umarmung am Flughafen. Die Beiden besuchen den Ort des Geschehens. Klar, dass Jurij sich nicht an das folgenschwere Ereignis erinnert und von dessen Folgen nichts wusste. Ob sie sich versöhnen werden, fragt ein anwesender Reporter. Die Beiden schauen sich an, fallen sich in die Arme und küssen sich nach russischer Sitte dreimal auf die Wangen – mit Tränen in den Augen.
Professor Killian hilft dem neu gewonnen Freund später das Grab seiner in Österreich verstorbenen Schwester zu finden. Und glücklich über das Erlebte fliegt Jurij drei Tagen später wieder heim. Wirklich unglaublich!
„Durch diese Begegnung wurde ich von einer psychischen Last befreit,“ meint der Professor. Im Vorwort seines zweiten Buches schreibt er: „Hier steht nicht der Hass, das Trennende, das Negative sondern die Verständigung und Vergebung im Mittelpunkt dieser Erzählung.“
Wie er das Leid ausgehalten habe? „Leid hat nur Sinn wenn die Seele dadurch geläutert wird.Wenn das Leid dort einigermaßen erträglich war so war ich , auch wenn es absurd klingt dankbar für diese Prüfung“  Und all die Ereignisse haben mir gezeigt: „Ich bin nie allein gewesen.“  Diese Erfahrung habe ihm „Sicherheit, Ruhe und Vertrauen“ für sein Leben geschenkt. Drei Säulen trage er in sich: Dankbarkeit für alles, Demut vor allem, Verbundenheit mit Gott.“
Und noch etwas: „Nichts im Leben ist selbstverständlich. Dass ich selbst nach vier überstandenen Krebsoperationen jetzt im 88. Lebensjahr relativ gesund bin und noch vieles tun kann ist, gar nicht selbstverständlich.“

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