Großes zu vollbringen, zerbrochen. Wohl wird Fra Marco 1655 zum Priester geweiht, er darf aber weder predigen noch Beichte hören. Der Besuch des Ordensgenerals Fortunat von Cadore wird jedoch sein Leben verändern. Nach einem Gespräch mit Marco setzt er sich dafür ein, dass dieser doch zum Studium zugelassen werde – eine große Herausforderung für den eher scheuen, schweigsamen Kapuziner, der jedoch wegen seiner zurückhaltenden, selbstlosen Art in seiner Umgebung gut gelitten ist.
So erhält er 1664, er ist mittlerweile 33 Jahre alt, sein Predigerdiplom. In den 18 Jahren seines bisherigen Ordenslebens gereift, erweist sich schon in seinen ersten Predigten, dass dieser Pater ein besonderes Charisma hat: Ohne rhetorische Schnörksel, in verständlicher Sprache erreicht er mit seinen Worten die Herzen seiner Zuhörer, wo immer sie ihn zu hören bekommen. Das Urteil seines Ordensgenerals: „So sollen wir predigen können!“
Bruder Marco wird also zu einem Volksprediger, der dank seiner Authentizität die Zuhörer mitreißt, sie zu Tränen rührt und zu einer – nicht nur kurzfristigen – Umkehr zu bewegen vermag
Anlässlich einer Marienpredigt am 8. September 1676 in Padua tritt ein weiteres Charisma von P. Marco zutage: die Gabe der Heilung. Sr. Vincenza Francesconi, die seit 13 Jahren ans Bett gefesselt gewesen war, wird, als der Pater den Kranken den Segen spendet, geheilt. Das Ereignis spricht sich herum. Die Folge: Alles, was heilungsbedürftig ist, sucht von da an bei Fra Marco nach Hilfe – und es finden tatsächlich auch viele dokumentierte Heilungen statt. Wie froh wäre Marco gewesen, bliebe ihm dieser Rummel erspart. Aber er gehorcht, jedes Mal wenn ihm sein Oberer aufträgt, an der Pforte den Segen zu spenden. Besonderes Aufsehen erregt die Heilung der an Brustkrebs erkrankten Patrizierin Laura Gritti. Fra Marco war vorübergehend ins Kloster nach Venedig gerufen worden. Der dortige Ordensobere hielt in einem Bericht fest: „Wenn Markus in unserer Kirche den Segen spendet, ist sie bis auf den letzten Platz gefüllt; fährt er in die Stadt, betritt er ein Haus, überall umdrängen ihn Hilfesuchende.“ Und dabei bereitet ihm die öffentliche Aufmerksamkeit Qualen, sie ist ganz und gar gegen seinen Wunsch nach Einsamkeit und Zurückgezogenheit.
Um nicht in den Geruch zu kommen, ein Wunderheiler zu sein, bestimmt er, künftig nur mehr jene segnen zu wollen, die vorher bei der Beichte gewesen sind. Sein Segen soll ja Wege zu einer wahren Gottesbegegnung eröffnen. So entwirft P. Marco einen eigenen Ritus für die Segnung: Im Mittelpunkt des Geschehens soll das Schuldbekenntnis, die Aussöhnung mit Gott, Reue und guter Vorsatz stehen. Der Pater spricht dementsprechende Sätze vor und die Hilfesuchenden müssen sie wiederholen. Das spricht die Leute – einfache und hochgestellte – an, sie schlagen sich an die Brust, weinen, rufen Gott an – ohne Scheu.
Gedanken aus seinen Predigten erschienen 1680 als Büchlein, das auch Kaiser Leopold I. zu lesen bekam: Gravita del peccato (die Schwere der Sünde). „Ich weiß nicht, ob es einen gibt, der es lesen würde und danach sich noch zu sündigen getraute,“ vermerkt er nach dessen Lektüre.
Bald ist Bruder Marco über Italien hinaus bekannt. Er wird nach Deutschland, Belgien, in die Schweiz gerufen. Überall wird der Text verbreitet und die Menschen strömen in Massen zusammen, um von ihm gesegnet zu werden. Da nicht alle, die Hilfe suchen, ihm begegnen können, segnet der Pater die Menschen aus der Ferne. Mit Erlaubnis seiner Vorgesetzten lässt er einen „Terminkalender“ drucken: „Hier waren die Tage verzeichnet, wo er um 11 Uhr Gläubige segnete, die sich durch Beichte und Kommunion darauf vorbereitet hatten. Unter diesen Empfängern finden sich Bischöfe, Adelige, der Kaiser und viele einfache Menschen,“ liest man im Büchlein Marco d’Aviano, Beter – Apostel – Retter Wiens.
Bald wird der Einsatz von P. Marco zu einem Rund-um-die-Uhr-Dienst. Auch nachts umlagern Pilger das Haus. „Der Zulauf des Volkes ist derart, dass ich weder untertags noch nachts Ruhe finde,“ schreibt er an den Kaiser.
Anlässlich eines Besuchs in München wird ein Aussätziger geheilt, was die Massen zusammenströmen lässt, vor denen der Pater auf Italienisch mit deutschen Brocken untermischt predigt. Aber das reicht, um Erschütterung, ja Tränen unter den Zuhörern auszulösen. Auch hier geschehen Heilungen, wie 150 in der Kapuzinerkirche zurückgelassene Krücken und ein Mirakelbüchlein, das 391 Heilungen verzeichnet, dokumentieren.
In Linz kommt es 1680 zur ersten Begegnung mit Kaiser Leopold I., einem intelligenten, frommen, gewissenhaften, aber unentschlossenen Mann. „Alles würde anders, wenn Sie einmal sagten: Ich will!“, wird ihn P. Markus ermahnen.
Große gläubige Begeisterung löst er auch in Frankreich aus. „In Lyon strömten 200.000 Begeisterte zusammen. Doch plötzlich ändert sich die Szene. Leibgardisten Ludwigs XIV. verbieten dem Kapuziner, sich Paris zu nähern… Marco und sein Begleiter P. Kosmas wurden festgenommen, bei Tag eingesperrt und nachts gefesselt und auf einem Heuwagen versteckt in Richtung Grenze transportiert,“ berichtet das erwähnte Büchlein. Die kirchenfeindliche Einstellung der französischen Krone, deren Feindschaft mit den Habsburgern und deren Unterstützung der Türken waren Gründe für diese Abfuhr des Paters, der ja gute Beziehungen zum Kaiser unterhielt.
In all diesen Jahren hatte P. Marco die Türkengefahr nicht aus den Augen verloren. Ermutigt durch die Haltung Frankreichs rückte der türkische Großwesir Kara Mustapha 1683 gegen Westen vor. Von Frankreich unterstützte ungarische Rebellen hatten ihn um Hilfe gebeten. Am 3. April schreibt der Kaiser an P. Marco: „Die Gefahr wächst immer mehr, denn der Krieg ist mehr als sicher und der Türke rückt heran mit einer Macht und einem so zahlreichen Heere, dass man seit 100 Jahren kein so zahlreiches mehr gesehen hat…“
Leopold ist ziemlich auf sich allein gestellt, verfügt über eine relativ geringe Streitmacht. Nachdem der Kaiser die Stadt schon verlassen hatte, wird Wien im Juli von den Türken eingeschlossen. Bis nach Oberösterreich verwandeln sie das Land in eine rauchende Trümmerlandschaft. In seiner Not erreicht der Kaiser, dass der Papst Fra Marco nach Österreich entsendet. Im September trifft er in Linz ein. Wien ist knapp vor dem Aufgeben.
Eine Entsatzarmee, verstärkt durch polnische, bayrische, sächsische und südwestdeutsche Truppen setzt sich in Bewegung. Über deren Kommando wird bis zuletzt gestritten. Auf Anraten P. Marcos verzichtet der Kaiser auf den Oberbefehl und es gelingt dem Kapuziner die rivalisierenden Truppen zu einem einheitlichen Vorgehen zu bewegen: Jeder Kommandant befehligt seine Truppen, den Oberbefehl übernimmt der polnische König Sobieski. Die entscheidende Hilfe erwartet sich der Pater aber nicht von seiner Vermittlungskunst sondern von Gott. Auf dem Tullnerfeld findet eine große Feier statt: mit Reue, Entschluss zu Besserung, feste Hoffnung, dass Gott dem Heere Segen schenken werde. Über sie schreibt König Sobieski: „Wir haben den gestrigen Tag im Gebet zugebracht. P. Markus von Aviano hat uns seinen Segen gegeben… Wir haben die Kommunion aus seiner Hand empfangen… “
Vor dem Angriff feiert P. Marco am Morgen des 12. September auf dem Kahlenberg bei Wien die Heilige Messe mit den Generälen. Dann beginnt die Entscheidungsschlacht, in der Marco nicht von der Truppe weicht. Das Büchlein zitiert einen Bericht: „Markus von Aviano, welcher die ganz Schlacht hindurch, wo die Gefahr am größten gewesen, mit einem Crucifix in der Hand, von einem Ort zum anderen gegangen…“ Er segnet, spricht Mut zu. So wird Wien – und damit Westeuropa – wie durch ein Wunder vor der islamischen Invasion gerettet.
Gleich nach dem Sieg, aber auch in den folgenden Jahren drängt der Pater auf die Zurückdrängung der geschlagenen Türken. Er wirkt als Militärseelsorger, sorgt für die Verständigung der rivalisierenden Befehlshaber, muss zwischen Kaiser und dem neuen Papst Alexander VIII. vermitteln sowie Übergriffe kaiserlicher Minister gegen die Kirche verhindern. Dazu reist er mehrmals nach Wien – trotz angegriffener Gesundheit. Im Sommer 1699 verschlechtert sich sein Zustand bedrohlich und er stirbt am 13. August im Kapuzinerkloster in Wien.
Trotz seines großen Ansehens verzögert sich die Seligsprechung dieses demütigen, bis zur Erschöpfung aufopferungsbereiten Predigers und Vermittlers. Sie findet – man höre und staune – erst am 27. April 2003 in Rom statt.