VISION 20003/2014
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Geschichte einer Wiedergeburt

Artikel drucken Ãœber die Macht der Vergebung (Maryvonne Gasse)

Vor seinen weit aufgerissenen, entsetzten Kinderaugen durchsiebt ein Mann eine Frau mit Messerstichen. Schließlich bricht die Frau zusammen. Diese Frau ist seine Mutter. Und der Mann – sein Vater…

Joseph hat soeben die Ermordung seiner Mama durch den, der ihm das Leben geschenkt hat, miterlebt. Er ist sieben Jahre alt.
Seine Mutter stirbt also, sein Vater wird eingesperrt – und Joseph kommt in die Obhut der Sozialfürsorge. Keine Familie, keine Orientierung. In der Pflegefamilie wird er gedemütigt, mit der Peitsche bearbeitet. Keine Möglichkeit, den Misshandlungen auszukommen. Und niemand da, bei dem er sich ausweinen könnte. Nach der Volljährigkeit eine Reihe kleiner Jobs, kein fixer Arbeitsplatz, keine vertrauenswürdigen Freunde. Mit 23 landet er auf der Straße, wo ihn Einsamkeit, Ungewissheit, die Flasche stets in Reichweite und der Hass im Herzen begleiten – vor allem die fixe Idee, die Mutter zu rächen.
Drei Jahre lang lebt er auf einer Bank: Place Victor Hugo in Grenoble. Stundenlang schaut er den vorbeigehenden Menschen zu: „Und ich träumte vom Leben, das ich mir gewünscht hätte, das ich hätte haben können, wenn nicht der Mann, den ich hasste, mir alle geraubt hätte,“ gesteht er in seinem Buch. Im Alkohol versucht er die Horror-Szene, die ihn dauernd heimsucht und die sich in seine Erinnerung eingebrannt hat, zu ertränken.
Wachträume lassen ihn nicht los: „Ich erschöpfte mich im Kampf mit einem Gegner, der mich aufrieb und mich letztendlich verschlang. Jedes Mal, wenn ich an sein Gesicht dachte, ergriff der Hass meine Seele ein Stück mehr.“ Das Antlitz seines Vaters… Dieser stirbt im Gefängnis. Da nach dem Tod des Vaters jetzt keine Rache mehr möglich ist, wächst sein Hass ins Uferlose.
„Wie geht es heute? Nach der Messe könnten wir ein bisschen plaudern, oder?“ Joseph traut seinen Ohren nicht. Vor ihm steht der Pfarrer. Der grüßt ihn jeden Tag, wenn er sein Brot holen geht. Übrigens als einziger. Wenn Joseph nach der Sonntagsmesse an der Kirchentür die Hand aufhält, bekommt er von den Gläubigen Kleingeld, aber kaum einen Blick, nie ein Wort. Nichts hält seinen Sturz ins Leere auf. Selbstmordgedanken suchen ihn heim: Albträume in den wenigen Stunden, die er schläft. Wir schreiben den März 1996. Joseph hat den Tiefpunkt erreicht: „Das Leben – nichts mehr für mich.“
Und da lädt ihn der Pfarrer auf einen Kaffee ein… Endlich jemand, der bereit ist, ihm zuzuhören – und er schüttet sein Herz aus: „Ihr Vater hat sicher nicht vor Ihren Augen Ihre Mutter erstochen! Das Leben ist nichts als Sch…! Da gibt es sogar Leute, die, um Geld zu verdienen, Kinder übernehmen.“ Der Priester schweigt, hört zu. Als die Glocken 12 Uhr läuten, betet er den Angelus. Joseph versteht kein Wort – hält ihn für einen „netten Deppen“. Aber langsam gewinnt er Vertrauen. Und dieser Weg der Freundschaft eröffnet neue Horizonte: die Vorbereitung auf die Taufe.
Nie hatte Joseph ein Wort über den Glauben, die Bibel, die Kirche gehört. Fragen über Fragen und Staunen für den Neuling. Seinen Gesprächspartner schont er dabei nicht: „Nicht wahr, der Engel hat wohl Maria befruchtet, damit Jesus zustande kam? Wo ist er jetzt?“
Weil er so tief verwundet ist, kann er manche heftige Reaktionen nicht unterdrücken. Als der Priester ihm das Vaterunser beibringen will, brüllt er: „Da habe ich das Bild meines Vaters, des Mörders, vor Augen, Nervenkrämpfe am ganzen Körper, vor lauter Ärger und Zorn droht mein Kopf zu platzen. Wilde Feindseligkeit überwältigt mich.“
Aber die Sehnsucht nach Gott erweist sich als stärker als seine Rachsucht. Nach drei schwierigen Entziehungskuren wird er in eine christliche Gemeinschaft aufgenommen. Dort schließt er eine innige Freundschaft mit Benedikt, einem Zwanzigjährigen im Rollstuhl. Die Zerbrechlichkeit dieses jungen Gelähmten trägt langsam den Sieg über die Gewalttätigkeit des recht kräftig gebauten Joseph davon.
1997 wird er getauft, bezieht eine Kleinwohnung und unterschreibt einen befristeten Arbeitsvertrag im Rehab-Zentrum, in dem er wieder auf die Beine gekommen war. Dort wird seine Arbeit geschätzt. Nach wie vor ungeheilt bleibt aber sein Vaterbild.
Ein Jahr darauf neuerliche Wende. Joseph nimmt an Exerzitien im Foyer de Charité in Châteauneuf de Galaure teil. Erster Vortrag – das Vaterunser. „Nur nicht das!“ erhebt sich ein Sturm im Neugetauften. „Es geht darum, den Vater zu lieben, Er ist das höchste Glaubensgut…“
Gleich nach dem Vortrag stürzt er auf den Priester zu: „Ein Glück, dass sie Priester sind, ich hätte Sie sonst zusammengeschlagen…“ „Sie brauchen nicht zu den Vorträgen zu kommen,“ antwortet der Priester, nachdem er den Grund des Ärgers erfahren hatte, „unter einer Bedingung: Vor Ende der Einkehrtage erwarte ich, dass Du mir sagen kommst, dass Du Deinem Vater seine Sünden vergibst.“
Wie schwer, mit diesem Priesterwort umzugehen! Und dennoch: Dieser Auftrag, der seine Kräfte zu übersteigen droht, wird in diesen Tagen der stillen Einkehr Frucht tragen. In einer Nacht, in der ihn die Schlaflosigkeit quält, geht er in die Kapelle, pflanzt sich vor der Statue der Gottesmutter, die ihn an seine Mutter erinnert, auf. Unterbrochen von Schmerzensschreien steigen in seinem verletzten Herzen die Worte des Ave auf. Der Himmel berührt die Erde, die Gnade den Mord. Das Herz öffnet sich, Tränen fließen und Joseph spricht Worte, die seine Wiedergeburt bedeuten: „Vater unser im Himmel… Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben… Ja, Du hast mich verletzt, als Du mich gewaltsam beraubt hast. Ich habe Dich gehasst, verabscheut, aber heute… Jetzt spüre ich, dass ich nicht mehr ein kleiner verlassener Bub bin.“
Und nach dieser milden Nacht sagt er dem Priester: „Meine Eltern dürften beide stolz auf mich sein. Von nun an werden sie mich gemeinsam beschützen.“
Seit dieser Nacht sind zehn Jahre vergangen, in denen die Barmherzigkeit Josephs Leben durchdrungen hat. Schritt für Schritt ist er in ein Leben als Erwachsener hineingewachsen: Heute ist er Koch, lebt in einem kleinen Pariser Appartement, pflegt treue Freundschaften, wird von einem Seelenführer begleitet. Und er gibt Zeugnis von der Macht der Vergebung bei Armen und Reichen. Es drängt ihn, die Botschaft weiterzugeben, dass für „Gott nichts unmöglich ist“.  

Famille Chrétienne v. 4.-10.12.10

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