Ich begegnete ihr im Schwerbehindertenabteil eines ICE zwischen Augsburg und Würzburg, auf jener Strecke, wo der Zug mehrere Stunden lang ohne Halt fährt. Sie stand unversehens in der Tür in ihrem dunkelblauen Dreß für Bahnbedienstete, obgleich die Fahrkartenkontrolle längst erfolgt war.
Sie stand da, eher klein mit einem freundlichen Lächeln in den großen dunklen Augen und fragte: “Darf ich Ihnen helfen, sich etwas auszustrecken?\"
Ich war ebenso verblüfft wie verwirrt; denn sie hielt mich berechtigterweise für behindert, obgleich ich das nicht bin und lediglich - von der Leere des Abteils verlockt - mich hier niedergelassen hatte. Sie nahm mein beglücktes Staunen als Zustimmung und schob, ruck-zuck, die Sitze so zusammen, daß es möglich wurde, die Beine hochzulagern.
Ich kam ihrer Einladung nach, erzählte der jungen Frau aber gleichzeitig dankend, daß ich zwar beinmüde von einem Vortrag, aber sonst wenig berechtigt zu bahnoffizieller Fürsorge sei.
“Fürsorge braucht jeder immer,\" erwiderte sie und brachte mich mit dieser so wenig zeittypischen Antwort in noch größeres Staunen. Mein Interesse an dem Mädchen war jedenfalls geweckt - ebenso wie das ihre an mir. Und da bereits alle Fahrgäste versorgt waren, kamen wir in ein langes, gutes Gespräch, zumal sich bald ergab, daß ich ihr durch meine Broschüre “Wir wollen warten\" längst schon begegnet war.
“Das hat mich so abgestützt\", bekannte die junge Frau mit leuchtenden Augen, “denn die Leute schütteln ja alle den Kopf über meinen Freund und mich. Wir haben kein Hehl daraus gemacht, daß unsere Ehe erst nach der Trauung anfangen soll. Bis dahin wollen wir verlobt bleiben,\" erklärte sie und rieb liebevoll den Ring am schmalen linken Finger. “Können Sie sich vorstellen, wie glücklich ich bin, daß ich einen Mann gefunden habe, der der gleichen Überzeugung ist? Wir haben auch ähnliche Vorerfahrungen, die uns zu dieser Einstellung gebracht haben,\" schildert sie.
“Ich war ein einsames Frankfurter Großstadtkind. Im zweiten Stock eines Hochhauses habe ich als Einzelkind viele Jahre hauptsächlich am verriegelten Fenster unserer Wohnung verbracht. Ich war unehelich geboren, und meine Mutter hatte einen harten Alltag zu Hause am Computer, um uns beide zu ernähren. Wir wohnten gegenüber von einer Bar, und ich habe als Kind viel dadurch gelernt, daß ich die Leute beobachtete, die dort ein- und ausgingen. Es war eine mir fremde, oft geradezu unheimliche Welt, auf die ich da hinguckte. Oft sah ich torkelnde Gestalten, solche die sich prügelten und andere, die sich abknutschten.
In der Schule fühlte ich mich fremd, wenn ich auch eigentlich ganz gut zurechtkam mit meinen Mitschülern. Schlimm wurde es aber in der Realschulzeit. Da wurde ich so richtig zum gemobbten Außenseiter; denn die nahmen nun ab 14 die Pille und holten sich Kondome aus dem Automaten. Ich fand das falsch, und wenn sie mich fragten, sagte ich ihnen auch warum: ,Intimleben kann doch nicht so was Ähnliches sein wie Pommes- und Döner-Essen. Dazu ist es doch viel zu heilig! Lieber bleibe ich allein, als nachher so etwas Abgebrauchtes zu heiraten\', sagte ich. Dann fielen sie über mich her, lachten mich aus wegen irgendwelcher Klamotten, wegen meiner Haare.
Eine unerträgliche Zeit, die bis zum Schulabschluß dauerte. Es hat mich schwer mitgenommen. Damals war ich sogar oft daran zu meinen, sie hätten vielleicht recht. Ich sei eben verklemmt, mit meiner Vorstellung auf dem falschen Dampfer. Da habe ich angefangen, nach etwas mir Ähnlichem zu suchen und in der Jugend 2000 dann auch gefunden. Dort ist mir auch klar geworden, daß wir gar nicht allein für uns selbst auf dieser Welt sind, sondern daß wir einen himmlischen Vater haben, der hofft, daß wir Ihm in Seinem Sinn dienen.
Seitdem weiß ich auch, daß ich einen starken Schutzengel haben muß, der mich, die ich doch ahnungslos war, durch all den Schlamm um mich herum durchgerettet hat. Dort gab es auch Lesestoff wie Ihre Broschüren. Schließlich fand ich hier auch meinen Freund. Im nächsten Jahr, wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist, wollen wir heiraten, wir wünschen uns viele Kinder.
Kürzlich hatten wir mit den ehemaligen Schulkameraden Klassentag. Ich bin hingegangen - nicht gerade aus Sympathie, eher aus Neugier. Von den zehn Mädchen, die kamen - jetzt 25, 26 Jahre alt - waren drei schon wieder geschieden, vier lebten kinderlos mit Lebensgefährten zusammen (es waren nicht die ersten, wie ich aus unserer Schulzeit weiß). Nur zwei hatten jeweils ein Kind. Von einigen Anwesenden wurde berichtet, daß sie schwer krank oder gar kaputt seien. Was für eine Bilanz! Ich habe zwar eine sehr schwere Kindheit und Jugend gehabt, aber jetzt zeigt sich doch, daß das Schwere nicht immer das Falsche ist.\"
Der Main taucht vor den Fenstern auf - meine Zugbegleiterin verabschiedet sich, wendet sich in der Tür noch einmal zurück, bedankt sich mit einer leichten Verbeugung und einem strahlenden Lächeln in einem lebendig gesunden Gesicht.
Sie ist selten geworden, die Keuschheit, aber es gibt sie noch. Heute ist sie mir unverhofft begegnet.
Christa Meves