Jeder Mensch muß frei das Recht wahrnehmen können, seine Religion oder seinen Glauben als einzelner oder gemeinschaftlich zu bekennen und auszudrücken, sowohl öffentlich als auch privat, im Unterricht, in Bräuchen, in Veröffentlichungen, im Kult und in der Befolgung der Riten. Er dürfte nicht auf Hindernisse stoßen, falls er sich eventuell einer anderen Religion anschließen oder gar keine Religion bekennen wollte. In diesem Bereich erweist sich die internationale Ordnung als bedeutungsvoll und ist ein wesentlicher Bezugspunkt für die Staaten, da sie keinerlei Ausnahme von der Religionsfreiheit gestattet, außer dem legitimen Bedürfnis der öffentlichen Ordnung, die auf der Gerechtigkeit beruht. Auf diese Weise erkennt die internationale Ordnung den Rechten religiöser Natur den gleichen Status zu wie dem Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit, womit sie deren Zugehörigkeit zum wesentlichen Kern der Menschenrechte beweist, zu jenen universalen und natürlichen Rechten, die das menschliche Gesetz niemals verweigern darf.
Die Religionsfreiheit ist nicht ausschließliches Erbe der Gläubigen, sondern der gesamten Familie der Völker der Erde. Sie ist ein unabdingbares Element eines Rechtsstaates; man kann sie nicht verweigern, ohne zugleich alle Grundrechte und -freiheiten zu verletzen, da sie deren Zusammenfassung und Gipfel ist. Sie ist „eine Art ‚Lackmustest‘ für die Achtung aller weiteren Menschenrechte“.
(…)Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der alle Formen von Fanatismus und religiösem Fundamentalismus verurteilt werden, muß auch allen Formen von Religionsfeindlichkeit, die die öffentliche Rolle der Gläubigen im zivilen und politischen Leben begrenzen, entgegengetreten werden.
Man darf nicht vergessen, daß der religiöse Fundamentalismus und der Laizismus spiegelbildlich einander gegenüberstehende extreme Formen der Ablehnung des legitimen Pluralismus und des Prinzips der Laizität sind. (…) Die Gesellschaft, die die Religion gewaltsam aufzwingen oder – im Gegenteil – verbieten will, ist ungerecht gegenüber dem Menschen und Gott, aber auch gegenüber sich selbst. Gott ruft die Menschheit zu sich mit einem Plan der Liebe, der den ganzen Menschen in seiner natürlichen und geistlichen Dimension einbezieht und zugleich eine Antwort in Freiheit und Verantwortung erwartet, die aus ganzem Herzen und mit der ganzen individuellen und gemeinschaftlichen Existenz gegeben wird. So muß also auch die Gesellschaft (…) so leben und sich organisieren, daß sie das Sich-öffnen auf die Transzendenz hin begünstigt. Genau aus diesem Grund dürfen die Gesetze und die Institutionen einer Gesellschaft nicht so gestaltet sein, daß sie die religiöse Dimension der Bürger nicht beachten oder gänzlich von ihr absehen. (…)
Wenn die Rechtsordnung – sei es auf nationaler oder internationaler Ebene – den religiösen oder antireligiösen Fanatismus zuläßt oder toleriert, kommt sie ihrer Aufgabe nicht nach, die Gerechtigkeit und das Recht eines jeden zu schützen und zu fördern. Diese Wirklichkeiten können nicht der Willkür des Gesetzgebers oder der Mehrheit ausgesetzt werden, denn – wie schon Cicero lehrte – die Rechtsprechung besteht aus mehr als einer bloßen Schaffung des Gesetzes und seiner Anwendung. Sie schließt ein, jedem seine Würde zuzuerkennen. Und diese ist ohne garantierte und in ihrem Wesen gelebte Religionsfreiheit verstümmelt und verletzt, der Gefahr ausgesetzt, unter die Vorherrschaft von Götzen, von relativen Gütern zu geraten, die absolut gesetzt werden.
Auszug aus der Botschaft zum Weltfriedenstag am 1.1.2011