Wenn man sieht, was sich alles in der Welt tut, fragt man sich unwillkürlich: Warum läßt Gott all das geschehen, warum billigt Er dem Widersacher so viel Macht zu?
Dieser Frage muß man sich wirklich stellen. Die beste theologische Tradition hat in dieser Frage eine wesentliche Unterscheidung eingeführt: zwischen dem, was Gott will und dem, was Er zuläßt. Es gibt nämlich Dinge, die nicht nach Seinem Willen sind. Daher müssen wir auch vorsichtig sein, wenn wir über Leiden oder Tod sprechen. Wir dürfen nicht voreilig sagen: Das ist der Wille Gottes.
Aber damit ist die eingangs gestellte Frage nicht wirklich beantwortet. All die Dinge, die Gott nicht will, geschehen ja dennoch. Sind sie also Seiner Macht entzogen? Ändert es etwas an dem Problem, wenn wir sagen, Er lasse diese Dinge zu?
Die Feststellung, Gott lasse etwas zu, ist nicht einfach nur ein Wortspiel. Es ist die - ich denke, die einzige - Art und Weise, wie man die unüberbrückbare Distanz zwischen dem Bösen und der Heiligkeit Gottes auf der einen Seite mit der Gegenwart Gottes in der Geschichte, wie diese sich nun einmal abspielt, in Einklang bringen kann. Selbst wenn sie nach einem Wort Shakespeares “eine Geschichte von Verrückten erzählt von einem Idioten" ist.
Wir stehen dazu. An manchen Tagen, vor allem in manchen Nächten, stehen wir gegen jeden Augenschein allein im nackten Glauben zu der im Innersten verankerten Überzeugung: Gott ist da, Er weiß, Er wirkt, Er leitet alles nach Seiner weisen Vorsehung.
Paulus bezeugt es kraftvoll: “Wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt" (Röm 8,28). Und Paulus zieht daraus den Schluß: “Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8,38f).
Und als Jesus von Kriegen und Unruhen, Erdbeben und Seuchen, angsterregenden Geschehnissen und Zeichen spricht, legt Er auch Wert darauf hinzuzufügen: “Laßt euch dadurch nicht erschrecken! ... Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. ... Dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe." (Lk 21,8-28)
Das heißt nicht, daß wir bewahrt sind vor der Bosheit, die in der Welt, manchmal ganz in unserer Nähe, ja sogar in uns selbst wirkt. Dennoch geht nichts an uns, nicht einmal ein Haar, verloren: jetzt nicht, weil Gott uns nicht verläßt; und auch am Ende nicht, weil alles schon durch den Tod und die Auferstehung Jesu im Voraus gerettet ist.
“Ich weiß schon, daß der Wahnsinn der Geschöpfe für die trostlose Lage der Dinge verantwortlich ist, und daß der Herr immer das letzte Wort haben wird. Aber bis dahin, welche Verheerungen!" - so die klagende Ergänzung auf die Frage nach dem Ursprung des Leids. Und tatsächlich: Der Mensch ist Urheber seines eigenen Unglücks. Gott ist nicht schuld daran. Aber Er will nun einmal nicht an unserer Stelle unser Leben leben und unser Schicksal spielen.
Es stimmt: Man kann sich nicht mit diesen zerstörerischen Verheerungen abfinden und es ist schwierig da Trost zu finden. Wie soll man die Geduld Gottes verstehen? Wie erwerben wir selbst diese geheimnisvolle Geduld? Diese Geduld, die nicht Gleichgültigkeit ist. Auch nicht Toleranz, sondern ein Ausharren.
In Jesus Christus wollte Gott selbst die schreckliche Macht des Bösen ertragen, Spielball des Prinzen der Welt sein. Mit tränenverschleiertem Blick hat Er da auf uns geschaut. Mit durchbohrtem Herzen hat Er uns geliebt. Uns, unschuldige Lämmer, Abbilder des Lammes. Und uns, die wir auch unbarmherzige Henker sind, aus dem Geschlecht der Schlange, Söhne des Teufels (vgl Joh 8,44).
Ja, Er hat die Macht, vom Bösen zu befreien; Er zerbricht die tödlichen Ketten; die Ketten dessen, der leidet, und die noch teuflischeren Ketten dessen, der Leiden zufügt. Er ist der Stärkere, der das Haus, das in die Hände des Starken gefallen war, wiederzuerobern vermag (vgl Lk 11,21f).
Die Tatsachen belegen es: Inmitten der schrecklichsten Höllen zeigt sich plötzlich die unbändige Kraft der barmherzigen Liebe. Seiner Liebe. Unserer.
Aus “Famille Chrétienne" v. 25.11.99