Wir leben im Zeitalter des mündigen Bürgers. Er bestimmt selbst, wo es langgeht. “Alles Recht geht vom Volk aus", postuliert Österreichs Verfassung. Was kann die Vaterunser-Bitte “Dein Wille geschehe" in diesem Umfeld noch bedeuten?
Telekom Austria wirbt auf großen Plakaten mit dem Sujet “Ich will" in verschiedenen Variationen. Damit spricht das Unternehmen zweifellos ein Grundthema unserer Zeit an: Sich durchzusetzen, seine Vorstellungen zu verwirklichen, ist heute sicher eines der starken Motive des Menschen, ein Programm, von dem man sich das Glück erhofft.
Zugegeben, der Hang, sich selbst zu verwirklichen, ist keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Selbstverwirklichung nunmehr propagiert wird, ist neu. “Persönliche Moral, so könnte man vereinfacht formulieren, ist out, Eigennutz und Lebensgenuß sind in," faßt der Meinungsforscher Erich Brunnmayr eine Erhebung in Österreich zu Beginn der neunziger Jahre zusammen. Dementsprechend sind es auch die Manager, die Macher, jene, die ihre Vorstellungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft durchzusetzen vermögen, die man bewundert.
Der Slogan: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, wirkt mittlerweile ziemlich verstaubt. Was braucht einer, der sich selbst zurechtfindet, noch Gott? In der säkularen Welt, wirkt das wie eine Relikt aus alten Zeiten. Schon damals allerdings legte man dem Menschen nahe, sein Schicksal sicherheitshalber selbst in die Hand zu nehmen, auch wenn man noch die vage Vermutung hatte, es sei von Vorteil, den Herrgott auf seiner Seite zu wissen.
Ihn braucht die moderne Gesellschaft nicht mehr, funktioniert sie doch nach den von Menschen festgelegten Spielregeln und dank leistungsfähiger Strukturen, die laufend optimiert, ausgebaut und nach des Menschen Willen gestaltet werden. Bei vielen weckt schon der geringste Gottesbezug Abwehrreflexe, wie die Debatten im EU-Konvent deutlich zeigen: Einen Bezug zu Gott in der Europa-Verfassung zu verankern, ist für viele ein rotes Tuch.
Welten liegen zwischen dieser Gesinnung und der Vaterunser-Bitte: “Dein Wille geschehe!" Welche Herausforderung, diesen Abgrund zu überbrücken! Zwingt das die Christen nicht dazu, irgendwie schizophren in zwei Welten zu leben: in der des rauhen Alltags, wo man sich durchsetzen muß - und in der Privatsphäre, in der man schon einmal auch bereit ist, nach anderen Spielregeln zu agieren?
Auf die Dauer aber hält man eine solche Zwiespältigkeit nur schwer aus. Und so ist der Christ ständig bedroht, sich mehr oder weniger unbemerkt an das rundherum praktizierte Denken anzupassen. Wer kennt diese Versuchung nicht? Und wer unterliegt ihr nicht immer wieder?
Da ist auch die Bitte “Dein Wille geschehe" nicht vor einer Umdeutung sicher. Das kann dann etwa so laufen: Gott hat Seinen Willen in den Geboten kundgetan. Für den mündigen Christen sind das wohl wertvolle Markierungen. Im Einzelfall können sie ihm allerdings nur als Rahmen für seine Entscheidungen dienen. Denn in letzter Konsequenz hat er sich in seinem Gewissen allein zu entscheiden, muß er seine Pläne selbst entwickeln. Keine Autorität könne ihm diese Verantwortung abnehmen.
In der Hand des mündigen Christen wird die Lehre des Herrn leicht zur Ideologie, in der man Gott vor den eigenen Karren spannt. Man meint, die großen Linien ohnedies zu kennen, zu wissen, was die Aufgaben von Kirche und Christenheit in unseren Tagen sind - und nimmt die Sache Gottes in die Hand. Unter Heranziehung des jeweils aktuellsten weltlichen Know-hows wird dann das Projekt - meist sogar sehr engagiert - vorangetrieben. Stellen sich dann die Erfolge nicht wie erwartet ein, wird Gott schon auch um Hilfe angerufen: “Herr, jetzt zeig' was Du kannst. Schließlich setzen wir uns ja für Deine Sache ein!"
Bei genauer Betrachtung wird aber deutlich, daß Gott in diesem Konzept vor allem die Aufgabe zukommt, dort den Lückenbüßer zu spielen, wo unsere Pläne nicht ans gewünschte Ziel kommen.
Wenn ich diese Haltung etwas karikiere, so erlaube ich mir das nur, weil ich Ihnen, liebe Leser, gleichzeitig gestehe, daß ich eine Zeitlang die Dinge genauso angegangen bin. Und selbst heute bin ich (trotz besserer Einsicht) nicht wirklich frei von dieser Fehlhaltung. Dabei ist dieser Zugang durchaus fatal, weil er uns um das Beste bringt, das Gott zu bieten hat: daß die Dinge nicht mehr von unserer Froschperspektive her gestaltet werden, sondern aus der Warte dessen, der alles überblickt und alles zum Guten lenken will und kann - aus der Warte des allwissenden und allmächtigen Vaters.
Im Grunde genommen bedeutet es eine enorme Befreiung, wenn wir uns nicht die Last aufbürden, selbst unser Heil und das der Welt wirken zu müssen. Eine ganz unsinnige Überforderung übrigens, wenn man es nüchtern überlegt. Welche Freiheit würden wir uns hingegen einhandeln, wenn wir wirklich alles in die Hände des Vaters legen wollten!
Ein Blick in das Evangelium zeigt uns ja, mit welcher unfaßbaren Freiheit Jesus Christus auftrat, dessen Speise es war, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte. Und Gleiches gilt für die Apostel nach Pfingsten. Jedes Jahr bin ich tief berührt von dem unfaßbaren Mut, mit dem diese noch vor kurzem verängstigten Männer gegenüber der jüdischen Autorität auftreten. Welche innere Freiheit wird diesen jetzt geisterfüllten, dem Willen Gottes ergebenen Aposteln zuteil!
Der Mensch wird in dem Maße frei, in dem er bereit ist, sich in die Hand Gottes zu geben. Dein Wille geschehe - das ist nicht ein Weg in die Knechtschaft, in die Unterdrückung, sondern eröffnet die Möglichkeit, teilzunehmen am Heilswirken Gottes in dieser Welt. Wer sich ehrlich für Gottes Willen öffnet, landet nicht in einem Ghetto, sondern kommt auf den Straßen und in den Häusern dieser Welt zum Einsatz - allerdings meist in durchaus unspektakulärer Weise.
Denn Gott führt uns behutsam, unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend. Er überfordert uns nicht. Im allgemeinen verlangt Er keine heroische Selbstverleugnung, sondern nützt das bißchen an Fähigkeiten, das Er jedem mitgegeben hat - um das Potential zu fördern und auszubauen, langsam neue Perspektiven zu eröffnen, auf neue Wege zu führen oder auf den vorgegebenen voranzuschreiten.
Der Alltag bleibt der Alltag. Aber wer ihn Tag für Tag in der Bereitschaft beginnt, daß Sein Wille geschehe, der wird erfahren, daß dies nicht nur ein frommer Wunsch, Teil einer Gebetsformel gewesen ist, sondern diese Bitte Folgen hat und das Leben tatsächlich prägt. Dann geschehen kleine Wunder: Ängste verblassen, Beziehungen heilen, Feindschaften werden begraben, Leiden kann angenommen werden, das Leben verliert den Charakter, eintöniger Trott zu sein...
Oft merkt man das Wirken des Herrn erst im Rückblick. Dann erkennt man, daß an der Hand Gottes durchgetragene Durststrecken zu Phasen der Erneuerung geworden sind, daß durch eine Nebenbemerkung aus dem Mund des einen der Herr einem anderen Mut gemacht hat, daß ein zögernd und stümperhaft begonnenes Werk durch Fügungen gedeiht und erstaunliche Früchte trägt...
Das Besondere an dem Geschehen ist: Der Mensch, der sich in die Hand Gottes begibt, lernt, auf etwas zu verzichten, was in der Welt enorm lockt und Sicherheit zu vermitteln scheint: auf Macht. Und obwohl dieser Verzicht eigentlich enorm befreiend wirkt, macht er die Entscheidung, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, stets aufs neue schwer.
Und noch eine Erfahrung machen jene, die sich bemühen, den Willen Gottes zu tun: In dem Maß, in dem sie selbst mit leeren Händen dastehen, dürfen sie dankbar erleben, daß Gott ihre Armut mit einem Reichtum füllt, den nur Er, der allein souverän Handelnde, kennt. Oft werden die Früchte solchen Wirkens allerdings lange auf sich warten lassen. Denn Gottes Zeitrechnung folgt einer anderen Arithmetik als unsere.
Damit aber solche Wunder geschehen können, bedarf es des täglich erneuerten Gebets, der Wille Gottes möge geschehen. Dieses Geschenk wird dem Menschen nicht auf Vorrat zuteil, damit er sich nicht überhebt. Nur in dieser stets neu bejahten Abhängigkeit wächst dann die Erfahrung und das Vertrauen, daß der Herr alles zum Guten wendet.