Wer Ausschau nach einem Rezept hält, um im Leben Erfolg zu haben, dem wird heute mit größter Selbstverständlichkeit nahegelegt: Du mußt lernen, deinen Willen durchzusetzen. Daran hat sich auch der Mann, um den es im folgenden Beitrag geht, gehalten - bis er eines Tages eine umwerfende Erfahrung gemacht hat.
Als Priester erlebt man immer wieder wunderbare Dinge. Zu den schönsten zählen die Geschichten, die Lebensgeschichten, die einem Menschen erzählen, ganz sponten, ganz zufällig. Zufällig eben, weil sie einem zufallen, vom Himmel zufallen, obgleich sie auf Erden geschehen.
Gott ist wunderbar in Seinen Heiligen! Eine solche Geschichte erzählte mir ein alter Mann kurze Zeit vor seinem Tod. Ich möchte sie Ihnen weitererzählen. Sie paßt gut zum Schwerpunkt-Thema:
“Ich war ein erfolgreicher Geschäftsmann, ehrgeizig, rücksichtslos. Alles mußte nach meinem Kopf gehen. Alle nach meiner Pfeife tanzen. Auch Gott. Wenn ich Probleme hatte, habe ich gebetet, aber so, daß mein Wille geschehe.
Dann - ich war Anfang 40 - hatte ich einen schweren Autounfall. Ein Jahr war ich im Spital. Dann ging's mit dem Geschäft bergab. Meine Frau verließ mich mit beiden Kindern. Als ich das Spital verlassen konnte, versuchte ich es wieder als Kaufmann. Aber ich konnte mich nicht mehr recht in die Arbeitswelt einfügen. Ich wurde gekündigt, dreimal.
Dann kamen Depressionen, eine nach der anderen. Ich betete wieder zu Gott, befahl Ihm, Er solle mich endlich gesund machen. Doch anstatt gesund zu werden, kam ich in die Nervenklinik. Wochen, ja Monate lang lag ich wie ein Faultier herum. Dann wurde ich entlassen.
Auf dem Heimweg ging ich in eine Kirche hinein, nicht um zu beten - weil ich todmüde war und kaum mehr zu gehen vermochte. Ich setzte mich auf die hinterste Bank...
Und dann geschah etwas. Ich weiß nicht mehr - war ich eingeschlafen oder nicht: Auf einmal war ich von einem hellen Licht umgeben, war wie in ein Meer von Licht und Liebe eingetaucht. Ich erkannte Gott und ich erkannte mich und sah, daß Gott mich liebte, grenzenlos liebte. Ich sah, daß Gott von mir alles wußte, mein ganzes Leben kannte, jede Sünde, alles. Um jeden Schritt, den ich bisher getan hatte, wußte Er. Und Er wußte, was noch kommen wird in meinem Leben.
Ich sah Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem. Und ich fühlte eine unendliche Liebe, so, als gäbe es für Gott nur mich, mich ganz allein, nicht noch 5,5 Milliarden andere, sondern nur mich.
Es war eine Liebe, die keine Vorwürfe machte. Keine Sünde hielt sie mir vor. Gott liebte mich einfach so, wie ich war. Er hat auch nicht auf mich eingeredet, nicht mit Stacheln vorangetrieben, wie so viele um mich herum. Nicht dieses ewige: “Reíß dich endlich zusammen! Hock nicht so faul herum! Tu etwas!" - Nein, ich kann diese Liebe nicht beschreiben.
40 Jahre lang habe ich meinen Willen durchgesetzt - im Geschäft, in der Familie. Immer habe ich befohlen - auch Gott. Doch seit diesem Erlebnis hat sich mein Leben um 180 Grad herumgeworfen.
Ich fühlte an jenem Tag einen Ekel vor mir selber, diesem rücksichtslosen Tyrannen. Und dieses Gefühl hat mich seither nie mehr ganz verlassen. Seither spüre ich ein leidenschaftliches Verlangen, nur noch Gottes Willen zu tun und um Gottes Willen zu beten.
Denn ich habe gesehen, daß Gott für uns Menschen nur das Beste will, das Liebste, Schönste. Aber wir Menschen stehen Seinem Willen dauernd im Weg. Wir schreiben Gott im Grunde dauernd vor, was Er zu tun hat, und merken es nicht einmal. Wir sind wie Figuren auf dem Schachbrett, die dem Spieler befehlen, welchen Zug er zu tun hat. So machen wir es mit Gott.
Wir beten jeden Tag, Dein Wille geschehe - und wenn er geschieht, dann protestieren wir, verlieren die Haltung, verzweifeln. Sie glauben nicht, wie ich Gott danke, daß ich den Autounfall hatte! Ich wäre sonst in der Hölle gelandet. Jetzt bin ich ein Kind Gottes und bete fast ununterbrochen: Vater, Dein lieber Wille soll geschehen, wie im Himmel, so auch auf Erden! Ich bete das fast immer, zu Haus und wenn ich auf der Straße gehe. Wenn ich ein Kind auf der Straße sehe, dann bete ich dieses Gebet über das Kind, damit an diesem Kind nicht der egoistische Wille der Erwachsenen, sondern der liebe Wille Gottes geschieht. Die Erwachsenen fragen ja kaum einmal nach dem Plan, den der liebe Gott mit den Kleinen vorhat.
Bei meinem Erlebnis in der Kirche durfte ich sehen, daß Gott mit jedem Menschen einen wunderbaren Plan hat, nicht bloß mit dem Propheten Jeremia und dem Apostel Paulus. Mit jedem hat Gott einen Plan. Der Plan ist im Himmel und soll hier auf Erden ausgeführt werden - wie im Himmel so auf Erden.
Gott denkt seit Ewigkeit her an jeden Menschen mit einer nicht begreiflichen Liebe. Gott trägt von Ewigkeit her jeden in Seinem Herzen herum, bevor er auf dieser Welt geboren wird. Im Himmel ist alles, bevor es auf Erden geschieht. Darum bete ich immer für alle Menschen, denen ich begegne: ,Vater, Dein Wille geschehe an diesem Menschen, nicht seiner!'
Ich bete dieses Gebet auch über die Politiker, über alle, die die Welt regieren, damit Gottes Wille sich durchsetze, nicht der ihre..."
Das Gespräch ging noch viel länger. Dieser Mann hat mir noch vieles erzählt, worüber ich nur gestaunt habe. Er ist auf Erden heilig geworden. Er hat nur noch nach dem Willen Gottes in seinem Leben gefragt und ihn für alle erbeten.
Er selbst ist nie mehr ganz gesund geworden. Noch zwei-, dreimal mußte er von seinem Arzt in die Klinik eingewiesen werden. Er ging widerspruchslos. Er ging, weil sein Arzt es ihm riet. Er mußte auch bis ans Ende Medikamente einnehmen. Auch seine Kopfschmerzen haben ihn nie ganz verlassen. Und wenn er in eine Depression hineingeriet, brauchte auch er alle Kraft, um sich über Wasser zu halten. Aber er verzweifelte nicht.
Einer Vollzeitarbeit konnte er nie mehr nachgehen. Dafür aber hat ihm der liebe Gott einen Vollzeitjob anvertraut: Er hat ihm das Gebet für die Menschen und für die ganze Welt anvertraut, daß Gottes Wille auf Erden geschehe und nicht der Wille der Menschen. Daß Gottes Pläne der Liebe und des Wohlwollens, des Friedens und der Versöhnung sich auf Erden durchsetzen, wie sie seit Ewigkeit im Herzen Gottes sind.
Dieser Mann hat die dritte Vaterunser-Bitte mit seinem ganzen Herzen verstanden und gelebt. Und ich stelle immer wieder bei Menschen fest, die im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe gereift sind, die nicht selten durch viele Lebensschicksale, Prüfungen und Demütigungen hindurchgegangen sind, daß sie von einer tiefinnerlichen Scheu gegenüber ihren eigenen Ansichten, Wünschen, Interessen, Meinungen erfüllt sind.
Sie haben es am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, den eigenen Willen im Leben zu tun. Sie haben es erfahren, daß im eigenen Willen viele Schadstoffe des Egoismus sind. Darum mißtrauen sich solche Menschen und mißtrauen ihrem Willen. Es sind dies immer ganz besondere Menschen, und sie sind auch ganz selten. Sie verstehen den heiligen Franz von Sales, der in seiner “Gottesliebe" schreibt:
“Wir dürfen uns nicht dabei aufhalten, dies oder jenes zu wünschen oder zu wollen, sondern müssen es Gott für uns wollen und tun lassen, wie es ihm gefällt ... Denn Er wird für den Erfolg unserer Unternehmungen Sorge tragen und das für uns wollen, was das Beste ist."
Für Menschen, die das existentiell erfahren haben, wird die dritte Vaterunser-Bitte zu einem leidenschaftlichen, immerwährenden Gebet.
So ein Mensch war auch der eigenwillige Charles de Foucauld, der nach vielen Irrungen als Soldat und Offizier zu Christus fand und ein Heiliger geworden ist. Von ihm stammt das wunderbare Gebet, das heute von vielen Christen auf der ganzen Welt gebetet wird. Es ist die dritte Vaterunser-Bitte:
“Mein Vater, ich überlasse mich dir; mach mit mir, was dir gefällt. Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir, zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an. Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt und an allen deinen Geschöpfen, so ersehne ich weiter nichts mehr, mein Gott. In deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn du bist mein Vater."
Der Autor ist Priester und wohnt in der Schweiz.