Wie erleben Sie die Wiener Stadtmission?
Kardinal Godfried Danneels: Die Kirche hat ihre Rückzugstendenz aufgegeben. Daher finde ich interessant, was hier in Wien gemacht wurde. Man ist nicht jeden auf der Straße angegangen, Christ zu werden - also nicht der Zugang der Zeugen Jehovas -, aber man hat sich in der Öffentlichkeit dargestellt. Die Leute konnten die Kirche sehen. Und sobald man gesehen wird, stellen sich die Leute auch Fragen. Das ist der Anfang jeder Evangelisation, daß die Außenstehenden sich zu fragen beginnen: Ja, warum tun sie all das? Eigentlich ist das sogar der halbe Weg der Evangelisation.
Was waren für Sie die wichtigsten Eindrücke?
Danneels: Mich hat am meisten beeindruckt, daß eine solche Mission in einer Stadt - und Brüssel ist Wien ja ziemlich ähnlich - überhaupt möglich ist. Am Anfang war ich nämlich etwas skeptisch. Wie geht man so etwas an? In Brüssel, wenn man in der Stadt lebt, stellt sich einem leicht diese Frage. Jetzt habe ich aber gesehen: Mit einer ausreichend langen Vorbereitung von einem bis eineinhalb Jahren, in denen man alle Pfarren besucht, mit den Pfarrern und den Pfarrgemeinderäten spricht, läßt sich etwas Gemeinsames organisieren. Diese Erkenntnis freut mich.
Ehrlich: Anfangs war ich zwar vom Projekt begeistert, aber ich fragte mich immer wieder: Werde ich überhaupt imstande sein, so etwas zu unternehmen?
Was nehmen Sie nach Brüssel mit?
Danneels: Offengestanden: Ich bin vor allem gekommen, um zu sehen. Welche Erfahrungen gibt es? Welche Ideen kann man einbringen? Und jetzt bin ich froh dazusein. Es ist so wie bei den Jüngern Jesu: Kommt und seht!
Ich erhoffe, daß in Brüssel dasselbe wie in Wien gelingt: Leute zusammenzuführen, die vorher nie zusammengearbeitet hatten, der Ortskirche ein in der Öffentlichkeit erkennbares Gesicht zu geben.
Finden Sie, daß die Kirche die richtigen Antworten auf die Fragen der Zeit hat?
Danneels: Die Kirche hatte immer gute Antworten. Meist aber wollte man sie nicht hören. Heute aber habe ich den Eindruck, daß die Welt zu fragen beginnt. Denn der geistige Hunger wird immer größer.
Auszug aus einem Interview, das Martin Ploderer für Radio Maria mit dem Erzbischof von Mecheln-Brüssel geführt hat.