Vor einigen Tagen erhielt ich von einem 83jährigen Missionar aus dem Süden Afrikas einen Brief. Ich hatte ihm vor einigen Wochen ein Geschenk-Abo von VISION 2000 zukommen lassen.
In diesem Brief schreibt er mir: “Ich habe mit Begeisterung Ihren Artikel vom verlorenen Kind im Wald gelesen, wie Sie mit dem Auto umkehrten und von dem Kind die Antwort erhielten: ,Ich habe auf Dich gewartet!' (VISION 2/03). Dieses Ereignis hat Sie zur Umkehr bewegt, ich meine nicht nur mit dem Auto, es hat Sie zum Theologiestudium bewogen. Darf ich Ihnen schreiben, wie es bei mir war?"
Und dann erzählt der Priester: Mein Vater war 48 Jahre Stationsvorstand bei der Bahn. Wir waren neun Kinder. Eines Tages war ein Arbeiter plötzlich krank. Nun gab es drei Arbeitsschichten. Ob krank oder nicht: täglich fuhren 50 Züge. Da mußte man einfach zwei Arbeitsschichten leisten, also von morgens fünf Uhr bis abends sechs Uhr, auch an Sonntagen. Da war keine Rede von einer Sonntagsmesse.
Am folgenden Mittwoch hatte mein Vater einen freien Tag. Er stand um fünf Uhr in der Früh auf, rasierte sich säuberlich und zog sich die Sonntagskleider an. Ich stand um sechs Uhr auf, weil ich zur Schule gehen mußte, und sagte zu meinem Papa: “Du hast dich geirrt. Heute ist nicht Sonntag. Oder fährst Du in die Stadt Luzern, um einzukaufen?"
Mein Vater gab mir zur Antwort: “Nein, ich hatte am vergangenen Sonntag Koppelschicht. Da konnte ich nicht zur Heiligen Messe gehen. Darum gehe ich heute ins Kapuzinerkloster, um der Heiligen Messe beizuwohnen." Ich war sprachlos. Wo gehen Männer am Mittwoch zur Heiligen Messe, weil sie sonntags keine Gelegenheit dazu hatten?
Da fragte ich mich: Was ist denn eine Heilige Messe? Warum rasiert man sich, zieht die Sonntagskleider und Sonntagsschuhe an, “nur" für eine Werktagsmesse? Ich war erschüttert. Ich dachte darüber nach, was ein Kapuzinerpater während 30 Minuten am Altare tut, und das jeden Morgen, auch bei kältestem Wetter, in Sandalen ohne Socken. Das gab mir innerlich einen ersten “Putsch" zum Priestertum.
Ich erzählte es meiner Mutter. Sie sagte: “Siehst du, was wir den Priestern schuldig sind. Ohne Priester gibt es keinen Himmel für uns." Das war ein zweiter Putsch. Also tat ein Priester mehr als ein Gemeindepräsident und Landammann, dachte ich mir. Kein General Dufour kam gegen den Priester auf, kein Bundespräsident in Bern.
Ich machte mir, damals zehnjährig, Gedanken darüber, was ich einmal werden soll. Ich war mir nicht klar. Ans Priestertum dacht ich nie, nur Gott und vermutlich auch mein Schutzengel, der ja von Gott um den Beruf des Kindes weiß. Ich mußte die gleichen Sünden beichten wie meine Klassenkameraden. Und doch verlief der Weg anders als bei ihnen...
Soweit der Bericht.
Dieser, vom stillen, schweigsamen Beispiel seines Vaters so tief beeindruckte zehnjährige Knabe ist später Priester geworden, trotz 2. Weltkriegs, trotz Aktivdienstes, trotz erschwerter Studien in dieser Zeit. Seit 53 Jahren ist er Missionar im Süden Afrikas, wo er heute noch lebt, täglich sitzend die Heilige Messe feiert und für die Menschen betet und seine Leiden mit denen Seines Herrn verbindet.
Als Priester kommt man mit vielen und ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch. Mir fällt immer wieder auf (und davon zu berichten werde ich nicht müde werden!), wie unendlich wichtig für uns Christen das tägliche, treue, unauffällige Beispiel ist.
Viele Menschen finden mit 30, 40 Jahren wieder zum Glauben zurück. Meistens ist es eine Lebenskrise, die in ihnen das Heimweh nach Gott weckt. Und wenn man diese Menschen fragt: Was verbindet Sie denn mit dem Glauben, mit der Kirche, mit Gott?, dann bekommt man die erstaunlichsten Antworten. Kaum einmal sind es Erfahrungen aus dem Religionsunterricht, selten unmittelbare mit der Kirche, meistens lauten sie etwa so: “Ich hatte eine liebe Mutter, sie hat jeden Abend mit mir am Bett gebetet... Ich hatte einen lieben Vater, er hat mich immer an der Hand genommen, wenn wir spazieren gingen, und kamen wir an einem Wegkreuz vorbei, standen wir davor still und beteten ein Vaterunser... Wir hatten eine alte Nachbarsfrau, die war immer lieb zu uns. Sie ging jeden Morgen ganz früh zur Messe und hatte ein so liebes Gesicht, daß ich glaubte, sie sei eine Heilige..."
Ich könnte fast endlos ähnliche Beispiele anführen. Es sind nicht die vielen Worte, mit denen wir auf die Kinder einreden und sie bepredigen. Nein, es ist unser tägliches unauffälliges Beispiel der Treue, der Ehrfurcht und Liebe zu Gott. Nichts ist für die Weitergabe des Glaubens so wichtig wie die Erinnerung des Kindes an einen lieben Menschen, der an Gott glaubte und Ehrfurcht vor Ihm hatte!
Das hat auch der große Menschenkenner, der russische Dichter Fjodor M. Dostojewskij gewußt. Er wollte einen Christus-Roman schreiben, doch das Leben gab ihm dazu keine Gelegenheit mehr. So baute er seine Botschaft in seinen letzten Roman Die Brüder Karamasow ein. An dessen Ende läßt er seinen Helden zu einer Schar Knaben die folgenden Worte sprechen - und sie möchten auch zu uns gesprochen sein:
“Wißt also, daß es nichts Höheres und Stärkeres und Gesünderes und fürs Leben Nützlicheres gibt als irgendeine gute Erinnerung, zumal, wenn man sie aus der Kindheit mitbringt, aus dem Elternhause. Man spricht zu euch viel über eure Erziehung, aber irgendeine schöne, heilige Erinnerung aus der Kindheit bewahrt, ist vielleicht die beste Erziehung. Wenn man ins Leben viele solche Erinnerungen mit sich nehmen kann, so ist der Mensch fürs ganze Leben gerettet..."
Eine nützlichere, schönere und heilsamere Erinnerung für ein Kind, das später ins Meer des Lebens hinausfährt, gibt es nicht als die an einen liebenswürdigen Menschen, der an Gott glaubte und ihm still und treu diesen Glauben vorlebte. Das hat schon viele gerettet.
Der Autor ist Priester und wohnt in der Schweiz.