Von den Verletzungen, die man in seinem Leben erlitten hat, spricht man oft - entweder um zu klagen oder um von ihnen geheilt zu werden.
Ein solcher Rückblick ist übrigens eine Voraussetzung für das Vergeben. Vergeben heißt ja nicht vergessen. Im Gegenteil: Es setzt voraus, daß man damit beginnt, sich die erlittene Verletzung - selbst wenn sie Jahre zurückliegen mag - in Erinnerung zu rufen.
Unsere Familie - und sei sie die beste der Welt - besteht trotz allem aus Sündern, verletzlichen Sündern, also aus Menschen, von denen zu erwarten ist, daß sie verletzen und verletzt werden. Selbst wenn wir die besten Eltern, Großeltern und Vorfahren hatten - unser Familienerbe ist von der Sünde gezeichnet.
Die Vergangenheit ist jedoch nicht nur negativ, und in unserem Erbe wiegt aller Voraussicht nach das Böse sogar weniger schwer als das Gute. Wer sich allerdings auf die Fehler und Irrtümer von gestern konzentriert, der läuft Gefahr, das viele Wunderbare zu übersehen. “Eines Tages", so erzählte ein junger Priester, “wurde mir bewußt, wie sehr ich meine Berufung, ja selbst meinen Glauben meinen Vorfahren, vor allem meiner Großmutter zu verdanken hatte. Damals habe ich zum ersten Mal dafür Dank gesagt."
Wir sind in derselben Lage: Wir kennen Christus dank der Treue jener, die uns vorausgegangen sind. Hätten sie uns das Evangelium nicht übermittelt - wie hätten wir es kennengelernt, um nun selbst danach zu leben? Sind wir ihnen dafür dankbar? Papst Johannes Paul II., der für so viele in der Vergangenheit begangene Fehler um Vergebung gebeten hat, fordert uns andererseits auch auf, dankbar für das wunderbare Erbe unserer Väter zu sein.
Wenn wir leben, so ist es, weil unsere Eltern uns das Leben geschenkt haben. Wenn wir herangewachsen sind, so weil diese Eltern (oder jene, die sie ersetzt haben) sich um uns gekümmert haben. Vielleicht haben sie dabei vieles unvollkommen und ungeschickt, vielleicht ohne genug Zartgefühl oder mit einer gewissen Gewalttätigkeit gemacht... Und dennoch: sie haben uns großgezogen.
Wenn wir gut suchen - Gott sei Dank wird das den meisten von uns nicht schwerfallen -, werden wir uns an das eine oder andere Liebeszeichen erinnern, das uns half zu wachsen. Selbst wenn es schmerzt, uns an die Kindheit zu erinnern, so versuchen wir doch wenigstens einen Grund für ein Danke zu finden. Voraussichtlich taucht dann bald ein weiterer Grund auf, und noch einer...
Dann entdecken wir, daß sogar die schwärzeste Vergangenheit vom Licht erleuchtet ist. Umso mehr natürlich, wenn diese Vergangenheit glücklich erlebt wurde: Dann sind es die zahllosen Liebeserweise, die unser Erbe ausmachen. Auch wenn sie mit Sünden durchmischt sind - wie die gute Saat mit dem Unkraut -, tragen sie heute noch Früchte in unserem Leben.
Nehmen wir uns dafür Zeit, um es zu reflektieren: Was wir heute sind, verdanken wir sicher uns selbst, unseren frei getroffenen Entscheidungen. Wir verdanken es aber auch unseren Eltern und Großeltern; unserer Heimat und jenen, die sie aufgebaut, sie verteidigt, ihre Reichtümer fruchtbar gemacht haben; allen, die zur Entfaltung der Zivilisation, deren glückliche Nutznießer wir heute sind, beigetragen haben - und auch, wie gesagt, der Kirche.
Wir stehen in der Schuld so vieler Frauen und Männer, berühmten und unbekannten, ohne die wir nicht leben könnten, wie wir es heute tun. Wir mußten unsere Muttersprache entwickeln, sie wurde uns zuteil und mit ihr all das, was ihren Reichtum ausmacht. Tag für Tag profitieren wir von Geräten, die andere für uns entwickelt haben. Und auch deren Erfinder nutzten Erkenntnisse von ihren Vorläufern. Und wenn wir Kunstwerke, die vor Jahrhunderten geschaffen worden sind, bewundern dürfen, so ist es dank der Generationen, denen es ein Anliegen war, diese Schätze zu hüten.
Man könnte die Beispiele beliebig vermehren. Man lasse sich davon nicht abhalten! Bringen wir das doch unseren Kindern bei. Dabei geht es nicht darum, so zu tun, als wäre früher alles besser gewesen, sondern darum, die Geschichte so zu sehen, wie sie nun einmal war, ohne daß die Schatten das Licht verdrängen. Wir sollten einen wohlwollenden Blick auf unsere Familiengeschichte, auf die Geschichte unseres Landes und der Kirche werfen: Es gibt so viel Grund zur Danksagung, Grund, auf unsere Wurzeln stolz zu sein.
Das ist kein falscher Stolz, sondern Anerkennung. Hinter all diesen Akten der Hingabe und des Mutes, deren Erben wir sind, steht die Liebe Gottes: Dank für das Vergangene zu sagen, heißt den Blick zu öffnen auf die Zeichen dieser Liebe, die in unserer Geschichte gegenwärtig und wirksam ist.
Famille Chrétienne v. 24.-30.503