VISION 20004/2003
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Gottfernes Land, in dem Bereitschaft wächst, die Botschaft zu hören

Artikel drucken Erfahrungen mit Studenten in den neuen deutschen Bundesländern (Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz)

Im Rahmen des Kongresses, der während der Stadtmission im Wiener Dom stattfand, hat die deutsche Religionssoziologin einen viel beachteten Vortrag gehalten, der sich mit der geistigen Situation in Ost und West auseinandergesetzt hat. Wir bringen im folgenden Auszüge aus dem Abschnitt über die Lage im Osten.

Vor allem im “neuen Osten" der Bundesrepublik sind die Grundkenntnisse, geschweige die großen intellektuellen Höhenflüge christlichen Glaubens bereits weithin geschwunden. Damit dünnen natürlicherweise auch der christliche Alltag und die großen Feste aus; der ethische und kulturelle Einfluß des Christentums auf die Öffentlichkeit ist gering.

Von 15 Millionen Ostdeutschen gehören nur vier Millionen der evangelischen oder katholischen Kirche an. Bei einer Umfrage nach der ursprünglichen Bedeutung von Weihnachten vermutete die Hälfte der Bevölkerung, die Weihnachtserzählung stehe in Grimms Märchen. Ostern und Pfingsten sind inhaltlich kaum besetzt.

Christliche Ethik wird in der eher unkenntlichen Form eines verblaßten Protestantismus der Großelterngeneration, der kantischen Pflichterfüllung und einiger Aufklärungsresiduen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) weiter überliefert. Aber die kleinbürgerliche “Anständigkeit" wird tagtäglich von ex-sozialistischer oder umgekehrt liberalistischer Praxis überlagert.

Vom Lebensschutz der Ungeborenen bis zur Sterbekultur, ja Bestattungskultur setzt sich ein gleichgültiges Nützlichkeitsdenken durch. Die meisten Kinder und Jugendlichen erfahren erst im (nicht immer erteilten) Ethik-Unterricht, daß es zehn Gebote gibt (oder gab).

Dazu auch eine Reihe plastischer persönlicher Erfahrungen an meiner Ost-Universität:

Sprechstunde mit einem “Zweitsemester" in Dresden; er möchte etwas über Jesus lesen. “Ich weiß nur: Er ist an ein Brett genagelt worden, außerdem wurde sein Prozeß ungerecht geführt. Können Sie mir einmal die Prozeßakten leihen?"

Szenenwechsel zu einer Prüfung, in der es um die Bergpredigt und ihren Autor ging, bravourös sogar, was die Seligpreisungen und ihren schwierigen Inhalt anging. Auch die Frage nach dem Autor dieser ethischen Forderungen wurde zur vollen Zufriedenheit ausgeführt, bis am Schluß der Satz fiel: “... und dann ist er gesteinigt worden." Nach nochmaligem Nachdenken kam zögernd der Alternativvorschlag: “... oder doch eher gekreuzigt."

Beide selbsterlebten Beispiele stehen für viele, die zu umfangreich sind, um aufgezählt zu werden. Auch geht es nicht ums Anekdotische, erst recht nicht ums Gelächter oder gar um ein Überlegenheitsgefühl. Tatsache und damit Alltag ist jedoch, daß unter den (freiwilligen) Hörern einer Vorlesung zum Christentum schätzungsweise 80 bis 90 Prozent Agnostiker sitzen, die in der Regel zum ersten Mal zusammenhängend etwas über Idee, Geschichte und Gestalten dieser Religion hören.

Die obigen Ausschnitte sind auch deswegen gewählt worden, weil insbesondere das Symbol “Kreuz" durchaus nicht immer mit Jesus, also mit dem Christentum in Beziehung gesetzt wird. Entweder wird es mit Spartakus und dem spätrömischen Sklavenaufstand assoziiert, oder es hat keine Besetzung mehr: Zu stark wirkt noch die Tabuisierung des religiösen Sprechens durch die offizielle Sprachregelung in der DDR nach.

Vielfach wurde ja nicht mehr gegen die Religion gesprochen, wodurch sie zumindest negativ in Erinnerung geblieben wäre, sondern sie wurde durch Totschweigen aus der Erinnerung viel wirksamer getilgt.

Dennoch ist die Gesellschaft nicht eigentlich religionslos, die Suche wird nur verschoben. Die Jugendweihe (ohne sozialistischen Hintergrund) ist ungebrochen beliebt, sektiererische und esoterische Angebote finden Zulauf, Radikalismen der rechten und linken Jugend-Szene bieten Weltanschauungsersatz, und sei es durch Gewalt.

Nach wie vor verläuft das Leben der meisten freilich im gewohnten disziplinierten Anstand, in nicht selten berührender Menschlichkeit. Doch ist die “Leerstelle" Gott und die entsprechende Leerstelle “Sinn" schmerzlich unbesetzt. Auf die Fragen einer geistigen Neuordnung und sittlichen Wertvorstellung der Gesellschaft kann nicht einfach - wie es gegenwärtig geschieht - religionslos und utilitaristisch oder pragmatisch geantwortet werden.

Hier läge ein Ansatz für die Neuverkündung des Evangeliums. Eben mit dem Abrücken von den unberechenbaren Folgen des autonom verstandenen Fortschritts eröffnet sich eine neue Möglichkeit: nicht zu einer Rückkehr des Religiösen in die politisch-bürgerlichen Strukturen, nicht zu einer religiösen Verwaltung von Wissenschaft, Technik, Forschung, aber zu einer ihnen vorausliegenden Sinnbestimmung.

Solcher Sinn kann freilich nicht gemacht, er kann nur wahrgenommen werden. Und zwar nicht von den wenigen Eingeweihten, sondern letztlich von jedem, sofern diese Qualität für Sinn neu geübt, biblisch gelehrt wird. Niemand ist nur in die “Strukturen" der Welt eingebunden und dort zum Funktionieren aufgerufen, mehr noch: vernutzt.

Unverlierbare Würde, unvertretbare Verantwortung können mit neuer geistiger Entschiedenheit nur hervortreten, wenn dem Menschen die unmittelbare Fähigkeit, Gott zu hören und ihm zu gehören, zugesprochen wird.

Die bisherige, auch kulturelle Selbstverständlichkeit des Christentums ist zweifellos vom Nicht-Selbstverständlichen abgelöst. Zu Tage tritt nun eine Unbedingtheit, eine gleichsam erzwungene Entschiedenheit im Christlichen, aber auch für das Christliche. Eine Erfahrung hat unser Jahrhundert bereits nachhaltig gemacht: daß sich in den christlichen Kirchen (im Plural ihrer Konfessionen) und um sie herum ein Kraftfeld aufbaut.

Nicht umsonst haben sich dort die Kräfte des Widerstandes gegen die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts gesammelt - Christen wie Atheisten wie Agnostiker, die hier ein Unbeugsames witterten, schwerer einzunehmen als andere Institutionen. Auch in dem Sinne, wie es Gilbert Keith Chesterton formulierte: “Nur die Kirche kann den Menschen vor der erniedrigenden Knechtschaft bewahren, ein Kind seiner Zeit zu sein."

Sie hält dem Denken das Absolute vor für das von Grund auf Menschliche, das Sittliche. Wie ein Schacht, der zum Grundwasser vorgetrieben ist. Wie das Salz, das noch salzt.

Wer denn sollte diese Aufgabe noch übernehmen, den Menschen an seiner absoluten Würde zu messen - und nicht mit dem Maß der Parteidoktrin, des Zweckes, der für das Individuum tödlichen Ideologien?

“Sie sagen, der Mensch gehe sie nichts an, man müsse ihn wie einen Ziegelstein benützen, wie Zement, man müsse aus ihm, nicht für ihn bauen" - so Ossip Mandelstam, Rußlands großer ermordeter Lyriker über seine und vieler anderer Millionen Mörder. Wer steht denn gegen die zementartige Brauchbarkeit eines Menschen, wenn nicht die vom Christentum schlecht und recht - ja, schlecht und recht - gehütete Überzeugung von der Würde eines jeden?

Überall, wo es um etwas Moderneres als die Aufklärung geht, geht es um solche neuformulierten Zusagen. Nicht um phrasenhaft Altes, sondern um die Klärung des Menschlichen, das sich doch wesentlich nur von Gott her klären läßt. Hier greift das Evangelium auch, ja erst recht in der säkularisierten Welt. “Weltfrömmigkeit" wäre auch ein Motto der Neuevangelisierung.

Nach diesen eher düsteren Skizzen aber die hellere Gegenseite desselben Zusammenhangs: die unleugbare Erfahrung einer besonderen und fast vorurteilslosen Aufmerksamkeit auf religiöses Reden.

Aus dem Westen kommend, war die Autorin auf Kirchenkritik vorbereitet, aus der Kenntnis der Ideologie her auch auf Religionskritik im Stile des 19. Jahrhunderts, nämlich auf die Projektionsthese Feuerbachs, die gesellschaftliche Abschaffung Gottes bei Marx, das Opium-Argument oder auch Nietzsches Aufwertung des Menschen durch die endliche Tötung Gottes. Keines dieser erwarteten Klischees wurde nachhaltig vertreten, eher in Form von Testfragen erprobt und bereitwillig fallengelassen, sofern eine ernsthafte Antwort vermutet wurde.

Das bedeutete für das religionsphilosophische Sprechen die angenehme Überraschung, unmittelbar mit der Lektüre von Texten oder der Darstellung von religiösen Fragen beginnen zu können, ohne den Schutt gängiger “westlicher" Frageverbote oder Denkzwänge beiseite räumen zu müssen.

Wieder ein griffiges Beispiel: Im einem Münchner Semester Anfang der neunziger Jahre wurde ein Augustinus-Seminar gleich zu Anfang mit der Bemerkung unterbrochen, Augustinus könne man heute nicht mehr lesen, er sei - wie das gesamte Christentum - frauenfeindlich (ein Vorwurf, den er in einem anderen Seminar mit Buddha teilte).

Es bedurfte einer Unterbrechung von zwei Stunden, um diesen Einwurf vor dem Hintergrund der Spätantike zu versachlichen und überhaupt den Raum für eine Kenntnisnahme der intellektuellen Leistung des Kirchenvaters wieder zu eröffnen.

Einige Semester später im Osten dasselbe Thema mit demselben Text: Zwar hatte keiner der Teilnehmer zuvor sich annähernd mit Augustinus beschäftigt, die Lektüre begann aber sofort konzentriert und lernbereit.

Damit ist die eigentliche Erfahrung erreicht: die berührende Bereitwilligkeit zuzuhören. Sie entbindet die Dozentin nicht von der Mühe, fast vor jeder Fragestellung eine Art Katechese durchzuführen, biblische Geschichte zu vermitteln, Historisches aufzubereiten, das “eigentlich" bekannt sein müßte. Aber die Offenheit des Zuhörens ist gleichzeitig befruchtend für beide Seiten.

Es bedeutet das Formulieren altbekannter Zusammenhänge mit erfrischender Erstmaligkeit, das Rückübersetzen des philosophisch oder theologisch Ausdifferenzierten ins Elementare, das Beantworten “unbeantwortbarer" Fragen wie etwa nach der Dreieinheit Gottes mit dem Risiko des Unvollständigen und dem Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit. Kurz: Die Areopag-Situation des Paulus ist täglich zu erleben, über den “unbekannten Gott" zu hören. Und vom Wunsch der Zuhörer her ist gerade darüber zu sprechen.

Die oben geschilderten Grenzen des Verständnisses haben den Wunsch als solchen nicht unterbunden; sie erschweren nur die Vermittlung. Aber es war nicht gesagt, daß Paulus sich auf dem Areopag ausdrücklich leicht tat. Entbunden hat ihn wohl das ungeheuchelte Dabeisein der Zuhörer. Vor diesem größten und unerreichbaren Vorbild werden die eigenen Versuche in ihrer Kleinheit anschaulich, aber auch vertretbar. Person ist auf Person resonant - das macht die Aufgabe fordernd, überfordernd, aber auch befriedigend.

Ex oriente lux? Solches ist manchmal zu hören, aus der eigenen Erfahrung jedoch nicht zu bestätigen. Aber: Ex oriente desiderium lucis (aus dem Osten der Wunsch nach dem Licht, Anm.). Und das ist nicht wenig.

Die Autorin ist Professorin für Religionsphilosophie an der TU-Dresden.

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