Wir werden heute vielfach mit Begriffen und “Tatsachen" konfrontiert, die als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Für Christen ist das nicht unproblematisch, weil man damit einen geistigen Hintergrund einkauft, der die Problematik verzerrt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der Begriff “Religion".
Ist es nicht merkwürdig, daß die geläufige Verwendung des Wortes Religion in seiner soziologischen Bedeutung zeitgleich mit der Ablehnung der christlichen Offenbarung auftaucht? Der Begriff “religio" hatte nämlich in der geistigen Begriffswelt der Christenheit zunächst keinen Platz. Für den heiligen Thomas war Religion eine moralische Tugend, die in Verbindung mit der Gerechtigkeit stand (es ging darum, den Gott geschuldeten Kult darzubringen). Nicht zu verwechseln war das mit dem übernatürlichen Leben, mit dem christlichen Leben ...
Das Auftreten des Konzepts von Religion im heutigen Sinn (als ein Glaubenssystem) findet genau zu jenem Zeitpunkt statt, da eine Kultur entsteht, die sich in der Renaissance vom Glauben zu lösen beginnt. Diese Art von Religion entdeckt man in den Schriften der neuzeitlichen Juristen (Grotius, Bodin), die das Handeln der Herrscher legitimierten. In jüngerer Zeit, etwa ab dem 18. Jahrhundert taucht der Begriff Christentum auf und beginnt die Bezeichnung Christenheit (die Gemeinschaft der Gläubigen) zu ersetzen: Man spricht vom Christentum, wie man auch vom Buddhismus oder dem Kommunismus spricht, also von einem System von Ideen und nicht von einer konkreten Realität.
Unser Glaube ist aber kein “Ismus" unter anderen, keine Ideologie, ja nicht einmal vorrangig eine Moral - er ist die Übereignung an eine Person, die Zugehörigkeit zum Mystischen Leib, der die Kirche ist.
Denis Sureau
Auszug aus “L'Homme nouveau" v. 2.12.01