Unlängst habe ich dem Zeugnis eines jungen Mannes zugehört, wie er zum Glauben an Jesus Christus gefunden hatte. Eine Geschichte, die nachdenklich stimmt.
Nach Jahren der geistlichen Verödung reiste er nach Indien, um dort zu Füßen der bekanntesten Gurus nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Doch er findet nicht, was er im Tiefsten sucht. Gelangweilt begibt er sich in einen Buchladen und greift dort nach einem Neuen Testament. Er schlägt es auf und liest im Johannes-Evangelium. Wie vom Blitz getroffen und erleuchtet kommt es über ihn: “Das ist es ja, was ich suche!"
Das ist kein Einzelfall. Von solchen Erfahrungen berichten Menschen heute immer wieder. Ich weiß von einigen, die für längere Zeit Europa verlassen haben und nach Indien gereist sind. Bevor sie zurückgeflogen sind, haben sie bei Mutter Teresa in Kalkutta einen Abstecher gemacht und dort gefunden, was sie nicht mehr zu finden gehofft hatten: Die Begegnung mit dem Sinn, die Berührung mit dem Ewigen, mit der Liebe, mit Jesus Christus.
Vielleicht müssen heute viele in die Ferne ziehen, “in ein fernes Land" (Lk 15,13) wie der zweite Sohn im Gleichnis vom Barmherzigen Vater, um in der Fremde zu fühlen, was sie verlassen, was sie verloren haben. Solange der Mensch auf der Suche nach der Wahrheit ist, nach dem Sinn, nach Gott, solange ist er nicht verloren, solange ist er auf dem Weg zu Gott. Ja, er ist von Gott schon gefunden.
Nun wird immer wieder behauptet, heute würden nur noch ganz wenige nach der Wahrheit, nach Gott verlangen. Diese Behauptung stützt sich jedoch auf eine oberflächliche Beobachtung. In Wirklichkeit sucht jeder Mensch nach dem Sinn, nach der Wahrheit, nach der Liebe, nach Gott, solange er lebt.
Denn der Mensch ist aus dem Herzen Gottes genommen. Er ist aus Liebe geschaffen. Jeder verspürt im Tiefsten seines Herzens die Sehnsucht nach seinem Ursprung. Diese Sehnsucht leidet und weint und schreit oft ein ganzes Leben in ihm, sogar noch im hohen Alter. Oft drückt sich dieses Leiden an der Sehnsucht in Vereinsamung aus, in Traurigkeit, in Depression.
Weil dieser Schrei im Gewissen des Menschen so bohrend ist, so nachhaltig, oft quälend, übertönt ihn der Mensch. Und das ist sein Unglück. Er erstickt diesen Schrei am PC, im Sinnengenuß, im Spiel, im Alkohol, im Lärm der Musik, in der Depression, in der Arbeit. Darum wird die Geräuschkulisse im Leben immer höher gezogen, das Leben immer mehr beschleunigt: damit der Mensch nicht mehr zur Ruhe kommt, zur Stille findet. Immer ist er auf der Flucht vor der Stimme, die aus dem Ewigen nach ihm ruft und um seine Aufmerksamkeit fleht und bettelt.
Der Mensch ist auf Gott hin geschaffen. Darum ist unser Herz ruhelos, bis es in Gott seine Ruhe findet. So hat es ein Augustinus empfunden. So haben es alle tieferen Menschen empfunden, seit es Menschen gibt. Diese Sehnsucht war immer da. Sie war besonders stark in der Zeit, als Christus auf Erden erschien.
Die meisten großen Gestalten und Lehrer der Kirche in den Anfängen des Christentums waren suchende Menschen, fragende, waren Philosophen, bevor sie Christen geworden sind. Es waren Menschen, die aus leidenschaftlicher Sehnsucht in der Kraft der Vernunft nach der Wahrheit gesucht haben, dem Urgrund alles Seienden, dem Ewigen, dem Schönen, dem Reinen, nach dem Sinn der menschlichen Geschichte, der Schöpfung, nach der Liebe.
In Jesus Christus als der “Weisheit Gottes" (1Kor 1,24) sind sie dem begegnet, was sie gesucht haben. Es war also nicht blinder Glaube, der sie in seine Arme gedrängt hatte. Es war die suchende Vernunft (gefangen und gequält im Dunkel ihrer Begrenzung), die in Ihm ihre Befreiung, ihre Erleuchtung, ihre Flügel fand. Und das war durch die ganze Geschichte der vergangenen 2000 Jahre bis auf den heutigen Tag so. Denken wir nur an eine heilige Edith Stein. Die Wahrheit, nach der der Mensch sucht, ist keine mathematisch definierbare Größe. Sie ist eine lebendige Wirklichkeit: Gott, der in Jesus Christus auf uns zugekommen ist und zukommt.
Das hat auch der Hindu Sundar Singh so erfahren, der nach seiner Begegnung mit dem Herrn überall bezeugt hat: “Wie es nur eine Sonne gibt, die gleicherweise im Osten wie im Westen scheint, so gibt es nur ein Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen: Jesus Christus." Darum wird die Kirche von Christus als “dem Weg, der Wahrheit und dem Leben" (Joh 14,6) niemals schweigen können. Sie wird den Glauben und das Bekenntnis der Apostel, daß niemand zum Vater kommt außer durch Ihn, gegen alle Vorwürfe von Intoleranz und Arroganz hochhalten müssen, bis der Herr wiederkommt.
Denn ihre Botschaft ist universal, weil auch die Sehnsucht nach der Wahrheit und der Liebe Gottes universal ist. Auch wenn sich heute die öffentliche Meinung auf das Dogma des Pluralismus und Relativismus eingeschworen hat: Die Kirche darf sich davon nicht beeindrucken lassen.
Denn die Liebe Christi drängt sie (2Kor 5,14), die befreiende Wahrheit und Liebe Gottes in demütigem Mut zu verkünden. Auf der ganzen Welt, in allen Kulturen und Religionen gibt es ja Menschen, die leidenschaftlich nach dieser Wahrheit verlangen und um sie leiden.
Und wer weiß, ob nicht bald einmal viele derer, die heute in unerleuchtetem Eifer die Kirche anfeinden und sie zu zerstören hoffen, nicht schon morgen (wie Paulus) zu denen gehören werden, die in ihrer letzten Verzweiflung nach dieser Wahrheit, nach dieser Liebe schreien, die einen Namen und eine Gestalt hat: Dominus Jesus, Jesus Christus ist der Herr!
Papst Johannes Paul II. hat in der Predigt vom 7. April 1987 in Argentinien etwas Wichtiges gesagt: “Die Identität des Christen fordert ein ständiges Bemühen um eine immer bessere Ausbildung, weil die Unwissenheit der schlimmste Feind des Glaubens ist. Wer kann behaupten, Christus wahrhaft zu lieben, wenn er sich nicht bemüht, Ihn besser kennenzulernen?"
Das ist für unsere Zeit ein ganz wichtiges Wort! “Wer kann behaupten, Christus wahrhaft zu lieben, wenn er sich nicht bemüht, Ihn besser kennenzulernen?" Das bestätigt sich heute überall - nicht nur draußen, bei den “Ungläubigen", sondern in den eigenen Reihen der Christen!
Als ich unlängst einer frommen und religiös sehr aktiven Frau ein gutes Glaubensbuch empfehlen wollte, sagt sie: “Ich lese nur noch Schriften, die direkt vom Himmel kommen!" Sie meinte Privatoffenbarungen. Was für eine Verwirrung! Gerade der Inhalt von Privatoffenbarungen kann auf ihre Glaubwürdigkeit nur am Glauben der Kirche geprüft werden.
“Unwissenheit ist der schlimmste Feind unseres Glaubens!" Der Papst weiß, wovon er spricht. Wir erleben heute auch in charismatisch ergriffenen Kreisen eine bisweilen beängstigende Unwissenheit im Glauben. Wieviele Menschen verirren sich auf ihrem geistlichen Weg, weil ihrer Spiritualität das solide Fundament eines erleuchteten und tragfähigen Glaubens fehlt! Wir hören Hosea: “Mein Volk kommt um, weil ihm die Erkenntnis fehlt." (4,6)
Das dringlichste Gebot der Neuevangelisierung ist: Jesus Christus besser kennenzulernen! In Seinem Evangelium, in der Lehre der Kirche, in den Werken der Kirchenlehrer und erleuchteter Theologen. Es gibt viele wertvolle Bücher, die uns helfen können, den Glauben der Kirche zu vertiefen (Fragen Sie einen Priester!). Ich möchte jedem das Buch von Romano Guardini empfehlen: Der Herr. Auch kann nicht genug darauf hingewiesen werden, sich einer Gruppe anzuschließen, wo im Geiste der Kirche die Heilige Schrift gelesen und studiert wird. Im Laufe der Zeit werden Menschen, die das tun, erfahren, wie ihr Glaubensbewußtsein sich vertieft und weitet, wie ihr Beten, Hoffen und Lieben eine neue Qualität erhält.
Wir müssen sehr achtgeben, daß wir uns im Zuge der Neuevangelisierung heute nicht an das religiös Außerordentliche verlieren, an das Wunder, das Ekstatische, daß wir das Heil nicht in immer neuen Predigern erwarten, die wir aus allen Erdteilen einfliegen. Evangelisierung heißt doch vor allem, daß ich ganz persönlich dem lebendigen, befreienden Christus begegne, mich jeden Tag neu in Seiner Nachfolge übe und täglich neu an Ihn binde. Denn “Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer" (Hos 6,6).
Das ist es, was der Papst meint, wenn er sagt, es könne niemand Christus wahrhaft lieben, wenn er sich nicht bemühe, Ihn immer besser kennenzulernen.
Der Autor ist Priester und wohnt in der Schweiz.