Ein Aspekt der Kultur des Todes ist wohl ein um sich greifender Verlust echter Freude am Leben, oft wohl eine Folge zu wenig erfahrener Liebe, als Kind, als Erwachsener. An diesem Defizit muß eine Erneuerung ansetzen und den Menschen glaubwürdig die unfaßbar große Liebe Gottes zum Menschen nahebringen.
Es sind immer wieder bedrückende Erfahrungen für uns Seelsorger, wenn junge Menschen einem sagen – und es in ihrer ganzen äußeren Haltung zum Ausdruck bringen: „Ich bin eine mißglückte Abtreibung... Ich war unerwünscht, ein Betriebsunfall... Es wäre für mich besser gewesen, man hätte mich damals schon abgetrieben... Nichts hält mich noch auf dieser beschissenen Welt...“
Aber es sind nicht nur junge Menschen, die in solcher oder ähnlicher Weise ihren Schmerz zum Ausdruck bringen. Auch alte Leute tun es bisweilen, wenn sich der Kreis ihres Lebens schließt und sie mit müden Augen ihrer Kindheit nochmals ins Angesicht schauen. „Ich kam zu früh“, sagte mir kürzlich eine alte Frau, „ich kam vor der Ehe, und ein Leben lang bekam ich es zu spüren, daß ich nicht hätte kommen sollen. Ja, vielleicht wäre besser gewesen, meine Mutter hätte mich nie geboren, denn ich habe das ganze Leben als eine Ablehnung erlebt...“
Wenn es auch verständlich ist, daß solch bitterer Schmerz nach außen drängt – denken wir an Ijob und manche andere Beispiele in der Bibel –, so sollte doch der Mensch, dem jedes Selbstwertgefühl abhanden gekommen ist, sich mit der Botschaft der Heiligen Schrift konfrontieren: Gott liebt alle Menschen, jeden einzelnen, seien sie in der Ehe gezeugt oder außerhalb von ihr, in gegenseitiger Liebe oder durch triebhafte Gewalt, seien sie von ihren Eltern geliebt oder verstoßen worden: Gott liebt alle seine Kinder und niemand hat das Recht, ein Geschöpf zu verachten, schon gar nicht sich selbst!
Und Gott liebt seine Kinder in einer Weise, die wir Menschen gar nicht fassen können. Zur hl. Katharina sagte der Herr von Seinen Menschenkindern: „Sie sind Mein, von Mir erschaffen und unaussprechlich geliebt“. Und die hl. Mechtild von Magdeburg drückt ihre Erfahrung mit der Liebe Gottes so aus: „Gott besitzt alle Dinge in Fülle, nur vom zärtlichen Umgang mit der Seele kann Er nicht genug bekommen“.
Aber nicht nur die Heiligen und die großen Liebenden der Kirche, die Mystiker, sprechen von der unbegreiflichen Liebe Gottes zu Seinen Geschöpfen – zu jedem Geschöpf –, die ganze Bibel spricht davon. Wir finden in der Hl. Schrift zu unserem Thema ein ergreifendes, ja, ein leidenschaftliches Wort aus dem Mund des Schöpfers selbst, das Er an den Propheten Jesaia (45,9-12) richtet, damit er es allen Menschen und allen Generationen verkünde, auch uns. Dieses Wort kommt sowohl in der Verkündigung leider viel zu kurz wie auch in der therapeutischen Arbeit mit Menschen, die von schweren frühkindlichen Defiziten an Liebe und Urvertrauen betroffen sind.
Also spricht der Herr, der Heilige: „Weh dem, der zum Vater sagt: Warum zeugtest du mich?, und zur Mutter: Warum brachtest du mich zur Welt? So spricht der Herr, der Heilige Israels und sein Schöpfer: Wollt ihr mir etwa Vorwürfe machen wegen meiner Kinder und Vorschriften über das Werk meiner Hände? Ich habe die Erde gemacht und die Menschen auf ihr geschaffen.“
Das also ist die Antwort Got?tes auf den Schmerz dieser Menschen: Ich habe dich geschaffen, Ich, nicht dein Vater, nicht deine Mutter. Ich wollte, daß du bist. Ich will, daß du lebst. Ich will, daß du dich liebst. Ich will, daß du dich freust am Leben. Ich mag es nicht, wenn du dunklen und selbstvernichtenden Gedanken nachhängst. Glaube an mein Wort, und du wirst leben. Denn Ich bin, der Ich bin und Ich will, daß auch du seist: Du in mir und Ich in dir, in diesem und im ewigen Leben. Und vergiß auch dieses mein Wort niemals: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich vergesse dich nicht“ (Jes 49,15)
Es gibt noch so ein wunderbares und Leben erweckendes Wort in der Bibel, das Menschen aus der Dunkelheit ihrer Selbstentwertung und Selbstverachtung herauszureißen und aufzurichten vermag: das Wort, das der Vater im Himmel zu Seinem Sohn spricht, als dieser sich im Jordan taufen läßt. „Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“. (Mk 1,11)
Du bist mein geliebter Sohn! Gibt es ein schöneres Wort, ein ermutigenderes Wort, das ein Vater zu seinem Kind sprechen kann?: Du bist mein geliebtes Kind! Jean Paul sagte einmal: „Mit einer Kindheit voll Liebe kann man die Kälte eines halben Lebens aushalten.“ Wir sagen: Mit der Liebe unseres Vaters im Himmel können wir die Kälte eines ganzen Lebens aushalten und selbst noch Wärme, ja Feuer weitergeben an andere, die in dieser Welt frieren.
Das Wunderbare an dieser Zusage ist, daß der Vater im Himmel dieses Wort über alle Seine Kinder spricht, die sich auf den Namen Jesu taufen lassen. Er hat es auch zu Dir gesagt, als man Dich zur Taufe trug! Über jedem Kind, das Eltern zur Taufe bringen, über jedem Menschen, der sich taufen läßt und den festen Willen hat, ein Kind des Himmlischen Vaters zu sein und nach dessen Willen zu leben, spricht der Vater dieses herrliche Wort: Du bist mein geliebtes Kind!
Das sollten Eltern nie vergessen! Darum sollten sie, der Vater und die Mutter, dieses Wort – im Namen des Vaters im Himmel – immer wieder über ihrem Kinde aussprechen: Du bist mein geliebtes Kind! Du bist das geliebte Kind des himmlischen Vaters. Vergiß es nie, Kind, daß Gott Dich liebt, daß wir, deine Eltern, dich lieben. So zum Kinde sprechen heißt sie segnen. Solche Kinder wird keine Kälte im Leben erfrieren lassen, kein Sturm wird sie für immer umwerfen, kein Sumpf kann sie für immer erfassen und ersticken.
Vielleicht kennen Sie das Leben und die Schriften des heiligen Kirchenlehrers Franz von Sales. Er wird auch Lehrer der Liebe genannt. Wenn nicht, dann möchte ich Sie sehr ermutigen, das noch nachzuholen. Ich meine, es gibt keinen Lehrer in der Kirche, der in so vornehmer, menschlicher, sanfter, liebevoller Weise zur Liebe Gottes hinzuführen versteht wie er. Ich habe mich beim Studium seiner Schriften immer wieder gefragt: Wie ist es möglich, daß ein Mensch zu solcher Liebe finden kann, sie zu leben und sie in so überzeugender Weise zu lehren?
Da fand ich, meine ich, eine Antwort in seiner Biographie. Ein erstes Wort, das man von Franz von Sales festhält (das er als Kind als ersten Satz gesprochen haben soll), lautet so: „Gott und meine Mutter haben mich sehr lieb.“ Sie haben mich sehr lieb! Das ist, meine ich, das Geheimnis dieses großen Theologen der Liebe. Er hat das Wort, die Zusage seines Vaters im Himmel immer wieder gehört und tief in sich aufgenommen: Du bist mein geliebtes Kind!
Wer dieses Wort in seinem Leben von Gott, seinem Vater, hören will, der muß in seine Kammer gehen und in der Stille des Gebetes auf Ihn hören. Er spricht es immer wieder zu Dir. Der Vater hat es auch nicht bloß zweimal zu Jesus gesprochen – bei der Taufe und auf dem Berg der Verklärung – sondern immer wieder, wenn Jesus in der Stille der Nacht zum Vater betete. Was der Herr zur hl. Angela von Foligno sagte, sagt Er auch zu dir: „Halte Mich lieb, denn du wirst innig von mir geliebt, inniger als du mich liebst.“ Und Er sagt es zu jedem Menschen, gerade zu jenen, die nicht glauben können, daß jemand sie liebt. Laß es Dir sagen! Nimm seine Liebe an, werde lebendig, werde froh! „Denn Er sieht uns in diesem Leben immer mit Liebe und Sehnsucht an. Und unsere Seele soll Ihn dadurch belohnen, daß sie fröhlich auf Ihn blickt.“ (Julia von Norwich)