Wie jeden Monat einmal darf ich heute eine Stunde bei Ruth Rieser sein. Durch Kinderlähmung ist sie seit dem 13. Lebensjahr bis zum Hals gelähmt, seit über 40 Jahren im Spital und an der Atemmaschine.
Von einem Telefongespräch in der vergangenen Woche her trage ich noch immer Trauer in mir. Ruth hat mir erzählt, daß die Sparmaßnahmen des Kantons im Spital gerade ihre Abteilung treffen, daß kaum genug Personal mehr zur Verfügung steht und mehrere ihr jahrelang vertraute Schwestern entlassen werden, sie neuem Personal wieder vieles erklären muß... Welches Ausgeliefertsein, gerade wieder für die Schwächsten, spüre ich.
“Und dazu", sagt Ruth mir heute, “muß ich mich damit abfinden, immer schwächer und immer weniger zu werden..."
Die Trauer erfaßt mich neu - so zerbrechlich sehe ich nun den grazilen Körper vor mir. Und ich bin dankbar, daß Ruth es wagt, auch ehrlich zu sagen, wenn ihr das Ja zu ihrer Situation schwerfällt.
“Seit Monaten brauche ich ständig Antibiotika. Und noch so ein Medikament, von dem ich überhaupt keine Wirkung feststellen konnte nach Wochen. Vielleicht sei es auch ein Gewinn, wenn man wenigstens den Status quo erhalten könne, meinte dazu die Neurologin. Das hat mir zuerst eingeleuchtet, um das Medikament nochmals für drei Monate zu nehmen. Aber nun denke ich: Habe ich eigentlich nicht auch das Recht, schwächer und weniger zu werden?"
Ruth wirkt auf einmal ganz lebhaft mit einem schalkhaften Lächeln über das ganze Gesicht: “Schließlich habe ich schon bald 42 Jahre durchgehalten. Soll's mir doch einer nachmachen!"
Sie lacht herzhaft, und ich spüre eine Wolke von Freiheit, die mir entgegenweht und sage es Ruth voller Staunen: “Das Recht, schwach zu sein, tatsächlich! Das klingt so, wie wenn du oben auf einem Berg stehst und zurückblickst, ganz zufrieden mit dem, was du geschafft hast!"
“Ja, so fühle ich mich manchmal... mit einem großen Ausblick rundum...", lächelt sie, “auch wenn ich nun wieder ein Stück hinunter muß."
“Weißt du, wer es dir noch nachmacht? Dieser 24jährige (den wir beide kennen, seit 10 Jahren in der gleichen Situation). Er hat doch in seiner schlimmsten Zeit zum Stichwort glücklich deinen Namen genannt. Weil er sah, daß dir das gelang, ist auch er so weit gekommen. Er - neben vielen anderen, die durch dein Leben und deine Bücher beschenkt wurden, ohne daß wir sie alle kennen."
Ruth nickt zufrieden und fügt nach einer Weile hinzu, leise und nachdenklich: “Immer wieder kommt mir nun dieses Wort in den Sinn: ,Meine Gnade genügt dir.' Und manchmal sage ich auch: Wie schwach muß ich denn noch werden? Wie tief hinunter soll es denn noch gehen?"
Sie sagt es lächelnd und ringend zugleich, und ich stelle mir vor, wie die Gnade immer mehr Raum erhält in diesem immer transparenteren Gefäß, fühle ein inneres Zittern, so tief berührt mich, was da spürbar wird in Ruths Nähe...
“Ich zittere immer," sagt Ruth darauf, fast fröhlich-selbstverständlich, und fügt dann, wieder nachdenklicher, jenes andere Wort hinzu, das sie durch diese Zeit begleitet: “Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." - “Das ist so wahr, so spürbar!"
Ja, auch für mich, denke ich. Wie könnte ich mich sonst so genährt fühlen, trotz allem Schweren, so tief beschenkt vom Leben dieser kleinen großen Frau?
Nur wenig von all dem kann mein Dank ausdrücken, als ich gehe. Aber Stunden und Tage danach noch wächst in mir die Überzeugung, daß Leidende ein Geschenk sind für uns “Gesunde", um uns leben zu lehren.
Marlene Inauen