VISION 20006/2003
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In der Prüfung

Artikel drucken Das Kreuz anzunehmen verändert alles

Am Tag nach einem tragischen Trauerfall hatte sich eine Frau in die Kirche geflüchtet, um da zu beten und zu weinen. Der Pfarrer setzte sich dann neben sie und hat, ohne ein Wort zu sagen, ihre Hand gehalten. Das hat sie zutiefst berührt. Diese einfache Geste war mehr wert als tausend Worte.

Es gibt aber auch Umstände, in denen man jemandem, der leidet, etwas wird sagen müssen, wenn auch stammelnd. Mir fällt auf, daß unsere Zurückhaltung, unser Schweigen - für uns Ausdruck des Respekts vor dem anderen, Angst, ihn zu stören - auch als Zeichen der Gleichgültigkeit gedeutet werden. Wer in Not ist, wer ansteht, erwartet gerade dann ein Zeichen, eine Botschaft, ein Wort. Dann muß man sein Herz, den Heiligen Geist in uns sprechen lassen, die Engel anrufen, sie mögen das Licht von oben durch unsere Worte und über unsere Worte hinaus strahlen lassen.

Die Prüfung erreicht uns stets dort, wo wir sie nicht erwarten. Sie trifft uns oft da, wo wir sie nur ja nicht gewollt hätten. Was kann man aber tun, damit eine Prüfung, die uns niederwirft, zum Kreuz wird, das uns wachsen läßt? Der Herr hat uns dieses Geheimnis in drei Worten mitgeteilt: “Er verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach."

Sich verleugnen: Unsere Depressionen, unsere Auflehnung haben meist ihren Ursprung in enttäuschten Erwartungen; in uns wirkt der geheime Wunsch, alles haben, alles können, alles sein zu wollen. Die Prüfung erschüttert diese magische, unreife Sicht. Übrigens bezeugen viele: “In der Prüfung bin ich gereift", “Ich bin nicht mehr derselbe Mensch..."

Das Evangelium lädt uns ein, auf dem Weg der Entsagung voranzuschreiten. Die Gnade der Entsagung besteht letztlich darin, daß man zustimmt. Ein Ja mitten hinein in die Ablehnung. Diese Änderung des Vorzeichens wirkt befreiend.

“Das Kreuz annehmen": Andere Stellen bezeichnen es als “Tragen des Kreuzes". In jedem Fall geht es um eine Geste, eine Handlung, das Annehmen einer Verantwortung. All das ist genau das Gegenteil von: unter der Last des Kreuzes zusammenbrechen. Es geht nicht darum, sich im Elend dahinzuschleppen, sondern seine Armut anzunehmen. Auch da geschieht Bekehrung. Der Blick ist dann nicht mehr auf das Ich gerichtet, das eigene Leiden, sondern auf das Leben, den Weg, den es zu gehen gilt. Man vermag man dann, andere mitzutragen. Das kann so weit gehen, daß, wer sein Kreuz trägt, zum Hoffnungsträger wird.

Jesus nachfolgen: In der Prüfung hat man den Eindruck, jetzt sei alles aus. Man hatte Pläne, baute etwas auf, das Leben folgte seinem Lauf. Und plötzlich läuft nichts mehr, eine Art Lähmung, oft verstärkt durch die Versuchung zu resignieren: Man versperrt sich in einer Art sterile Starre.

Das Evangelium verkündet aber nirgends Resignation. Es setzt in Bewegung, enthüllt einen Weg dort, wo man eine Sackgasse vermutet hatte. Zugegeben, es ist der Kreuzweg; aber er ist auch der Weg zur Auferstehung - woran man allerdings glauben muß. Es ist der Weg Christi, der Weg der Liebe ohne Rückkehr. Das ist das große Geheimnis: nicht aufgeben, auch wenn alles verloren scheint. Wenn man gar nichts mehr vermag, lieben kann man auch dann noch, opfern. Das scheint wenig zu sein - und ändert doch alles. Die erlittene Prüfung ist steril, die aufgeopferte fruchtbar. Wie das Kreuz.

Alain Bandelier

Auszug aus “Famille Chrétienne" vom 16.9.99

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