VISION 20006/2003
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Fernsehen verändert, ohne daß man es merkt

Artikel drucken Die Techniken der Beeinflussung sind heute sehr ausgefeilt

Seit Jahrzehnten wird ferngesehen - in fast jedem Haushalt. Aber wer fragt nach den Wirkungen dieses regelmäßigen Medienkonsums, besonders auf Kinder? Eine französische Forscherin hat die Folgen des Fernsehkonsums untersucht. Was sie dabei herausfand im folgenden Interview:

Kann man sagen, daß das Fernsehen das Verhalten beeinflußt?

Liliane LurÇat: Ja, und zwar so massiv, daß die Personen, deren Verhalten verändert werden, es gar nicht bemerken - weder an sich selbst, noch an den anderen. Alle verändern sich gleichzeitig. Das nennt man eine Massenerscheinung. Jeder unterliegt direkt dem Einfluß beim täglichen Zusehen durch fortgesetzte Durchdringung. Und er gerät indirekt in diesen Sog an allen Orten, wohin dieser Einfluß durch die Betroffenen getragen wird.

Wie wirkt sich das Fernsehen auf die Kinder aus?

LurÇat: Durch seine Gegenwart zu Hause: Das einfache Zuschauen begünstigt die tägliche Durchdringung. In der Kindheit lernt man auf dreierlei Weise: zunächst durch Nachahmung, dann durch das Tun und schließlich durch die systematische Vermittlung von Wissen. Die Nachahmung ist eine äußerst wirksame Weise des Lernens, die vom Beginn des Lebens an stattfindet. Das Kind saugt die Lebensweise und Gewohnheiten seiner Umgebung in sich auf. Auf diese Weise wirkt auch das Fernsehen: Das Kind lernt, ohne zu merken, daß es lernt - daher auch ohne zu wissen, was es lernt. Im Leben geht es ja nicht nur darum, Schulwissen oder bestimmte Praktiken, also den Umgang mit den Dingen, zu erlernen, sondern auch bestimmte Weisen zu fühlen, zu sein, zu denken.

Bei der laufenden Zunahme des Medienangebots, der Gewaltdarstellungen, was kann da die Familie, die Schule tun?

LurÇat: So wie alles, was auf die Gefühlswelt wirkt, ist auch die Gewalt ansteckend. Sie kann zu Nachahmungshandlungen führen, die einem gar nicht bewußt sind. Daher muß die Familie den Fernsehkonsum steuern. Erstens: das Zusehen nicht zu einem Ritual werden lassen, also verhindern, daß regelmäßig zur selben Stunde ferngesehen wird. Zweitens: Die kulturellen Aktivitäten der Kinder vervielfältigen. Dabei verwende ich kulturell in einem weiten Sinn des Wortes. Ein einziges Beispiel: die Kinder auf den Markt mitnehmen. Das Fernsehen versetzt die Kinder in eine Situation verarmter Sinneswahrnehmung: Man nützt nur die Sinnesorgane der Entfernung (das Sehen und Hören), nicht jedoch jene der Nähe (den Geruch-, den Geschmack-, den Tastsinn). Auf dem Markt werden alle Sinne stimuliert. Dort bietet sich auch die Gelegenheit, Leuten verschiedenen Alters und sozialer Schichtung zu begegnen. Das Fernsehen erzeugt ein Ungleichgewicht in der Entwicklung des Kindes, das ja alle Sinne entwickeln können sollte. Die Synthese aller Sinne läßt den Gemeinsinn entstehen, die Basis des gesunden Menschenverstands. Dieser ermöglicht erst das Urteilen. Und das Urteil ist, wie Hanah Arendt sagt, die Basis der politischen Verantwortung jedes Bürgers.

Drittens: Das Kind, das fernsieht, begleiten und verhindern, daß es lange allein zuschaut. Viertens: Abschalten, wenn es zu gewalttätig zugeht. Gewalt in der Unterhaltung schafft Gewohnheiten. Gewalt kann erschrecken und einen Geist der Unterwürfigkeit entstehen lassen, sie kann Grausamkeit hervorrufen. Was die Schule anbelangt: Ihr jetziger Zustand der Auflösung gestattet ihr nicht einmal, jene Aufgaben, die ihr zukommen, wahrzunehmen, geschweige denn, das Fernsehen zu managen. Letzteres würde auch voraussetzen, daß man seine Wirkungen auf die Schüler versteht und bewertet.

Sind sich die Medien ihrer Verantwortung bewußt?

LurÇat: Sie lehnen diese Verantwortung ab und wälzen sie auf die Familie ab. Was immer die negativen Folgen auf Kinder und Erwachsene auch sein mögen, vertreten die Medien die Ansicht: Verantwortlich sind nicht jene, die machtvoll bei jedermann eindringen und das verbreiten, was ihnen gefällt (inklusive Horror und Lügen), verantwortlich ist, wer einen Fernseher besitzt und ihn einschaltet.

Sie haben von negativer Suggestion gesprochen, von Ähnlichkeiten mit einem Zustand der Hypnose. Können Sie das näher ausführen?

LurÇat: Die Suggestion kann sich auf dem Weg der Ansteckung mit Gefühlen verbreiten. Dieses Phänomen wurde über den Weg der Ausstrahlung von Fernsehsendungen in sehr großem Maßstab möglich. Die Ausdrucksstärke des Bildes kann eine morbide Faszination auf sensible Menschen ausüben. Die negative Suggestion ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier Phänomene: eines psychologischen, der Nachahmung, und eines sozialen, der Vermassung. Wie alle zu sein, wird zum Modell, das sich aufdrängt. Suggeriert wird dabei die Vorstellung, man sei originell. Zu den schlimmsten Folgen der negativen Suggestion zählen die Zerstörung der Werte, auf denen die Gesellschaft aufbaut, und der Sittenverfall.

Kann man diesen Beeinflussungstechniken entkommen? Und wie?

LurÇat: Der Einsatz und die Entfaltung der Beeinflussungstechniken in der Werbung und in der Politik übersteigen, was ihre Vielfalt und ihre Wirksamkeit anbelangt, alles bisher Dagewesene. Die Wirksamkeit dieser Methoden wird dadurch vervielfältigt, daß alle Medien in gleicher Weise wirken. Das Monopol der Medien ist ein Angriff auf die Grundlagen der Demokratie. Die Gleichförmigkeit der Blicke, der Kommentare, der Werturteile zerstört das persönliche Urteilen. Je nach Alter und Lebensumständen ist das Ausmaß der Beeinflussung unterschiedlich. Um sich sein Urteilsvermögen und die Freiheit eigenen Denkens zu erhalten, bedarf es einer intellektuellen und moralischen Hygiene. Jeder muß der aufgedrängten Gleichschaltung den Kampf ansagen, um seine Einmaligkeit und Menschlichkeit zu bewahren. Insbesondere gilt es zu verhindern, daß sich die Kinder durch die Beschränkung ihrer Sinneswahrnehmung durch das Fernsehen unharmonisch entwickeln. Diese Disharmonie beeinträchtigt die kindliche Entwicklung und schadet später dem Erwachsenen. Diese Beeinträchtigung äußert sich in Unreife, Leichtgläubigkeit, in der fortwährenden Suche nach Spaß und in einem Mangel an Urteilsfähigkeit.

Warum diese Manipulation von Kindern und Jugendlichen?

LurÇat: Weil sie am meisten für solche Einflüsse offen sind und einen lukrativen Markt darstellen. Die Manipulation der Kinder findet im Bereich des Konsums statt (Nahrung, Kleidung, Kultur, um die Massen von Büchern, Kassetten, Videospielen, CDs abzusetzen). Man will das Verlangen nähren, Neues zu besitzen und zu unternehmen und veraltet zu finden, was bisher wertvoll schien. Das Kind - ebenso wie der Erwachsene - verinnerlicht, was ihm unterjubelt wurde, um dann so zu agieren, als geschähe es aus eigenem Antrieb.

Das Gespräch führte Agnès Jauréguibéhère in “L'Homme Nouveau" v. 7.9.03. Liliane Lurcat ist Forschungsleiterin am CNRS (Centre National de Recherches Scientifiques) im Fachbereich Kinderpsychologie und Autorin zahlreicher Bücher, unter anderem von La Manipulation des enfants. Nos enfants face à la violence des images,

Éditions du Rocher 2002, 18 Euro

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