Was würde uns der Evangelist Johannes nach 2000 Jahren Christentum heute sagen? Diese Antwort beschäftigte anscheinend den bedeutenden amerikanischen Bibelwissenschafter Raymond Brown kurz vor seinem Tod. Seine Antwort gibt er mit dem Büchlein 7 Tage mit dem Evangelisten Johannes. Der Originaltitel nennt es ein Exerzitienbuch, mit dem der Leser eine Woche Johannes zum Exerzitienleiter hat.
Die Antwort ist einfach und doch so folgenreich: Johannes würde uns heute wieder sein Evangelium geben, diese mystische, oft schwer zu durchschauende Schrift über den Gott, an den er und seine Gemeinde glaubten, das heißt, über das Fleisch gewordene Wort Gottes, Seinen Vater und den Parakleten, den Heiligen Geist.
So schlüpft Father Brown in die Rolle des Johannes und läßt ihn die Schlüsselstellen seines Evangeliums neu erzählen. Und das ist eine spannende, zuweilen auch unterhaltsame Sache. Denn der Evangelist hat mittlerweile auch die anderen Evangelien gelesen, die er damals noch nicht kannte, und mit Brown so manche Unterhaltung gehabt. So wendet er sich gegen Fehlinterpretationen seines Evangeliums und erzählt, was ihn bewegt hat, als er mit seinen Worten Gottes Botschaft niederschrieb.
Nach jedem Exerzitienvortrag, der ganz aus dem Johannesevangelium und den Johannesbriefen schöpft und sie auch immer wieder zitiert, bietet Brown als “Übersetzer" Anmerkungen. Darin erläutert der Bibelwissenschaftler, was ihm selbst im Gespräch mit Johannes neu aufging und wie dieses und jenes in seinem Evangelium zu verstehen ist.
Als langjähriges Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission geht es ihm auch darum, die Dogmen und die weiteren Entwicklungen in Kirche und Theologie nicht als unbiblisch zu diffamieren, sondern ihren Kern bereits bei Johannes ausfindig zu machen. Andererseits mahnt er auch mit Berufung auf Johannes, nicht Strukturfragen der Kirche und bestimmte Formen des Glaubenslebens über das höchste Gebot zu stellen, die Liebe.
Die Mitte unseres Glaubens ist eine Person, unser Schöpfer, der sich im ewigen Wort ganz auf uns eingelassen hat und alles an sich ziehen will. Wie leicht sind wir auch beim Gebet, bei Exerzitien versucht, diesem einen Wichtigen auszuweichen! Es ist ja viel leichter, sich nur noch in Diskussionen über diese und jene Frage zu ergehen, nur noch den Glaubensabfall und irgendwelche Mißstände zu beklagen.
Diverse Fragen mögen zwar ihre Zeit und ihren Ort haben. Diese Exerzitien mit Johannes führen uns aber drastisch vor Augen, daß Gott und der Glaube keine bloßen Ideen bleiben dürfen, sondern in uns Fleisch annehmen müssen. Es geht um die Begegnung mit Jesus Christus und um die anhaltende Beziehung mit ihm.
Das ist auch heute noch die Botschaft des Johannes. Dieses Buch will nicht sein Evangelium ersetzen, sondern eine zeitgemäße Hinführung in lockerer Form sein, auf daß wir regelmäßig aus der Quelle der Heiligen Schrift schöpfen mögen.
Bernhard Eckerstorfer OSB
Leben in Fülle. 7 Tage mit dem Evangelisten Johannes. Von Raymond E. Brown. Verlag Neue Stadt, München 2002. 140 Seiten.
Diese und andere Bücher können bezogen werden bei: Christoph Hurnaus, Waltherstr. 21, 4020 Linz, Tel/Fax: 0732 788 117; Email: hurnaus@aon.at