Wann haben Sie, liebe Leser, zuletzt mit jemandem über den Umgang mit dem Leben in unserer Zeit gesprochen? In der deutschsprachigen Kirche, in Predigten meidet man das heikle Thema eher - und dabei steht es im Zentrum der geistigen Auseinandersetzung unserer Tage.
Genau das macht es wiederum schwierig, das Thema anzusprechen. Denn irgendwie spüren wir, daß in diesen zentralen Fragen, nämlich: Wer darf leben? Wer darf über Leben verfügen? ein tiefer Riß durch unsere Völker geht. Eine unüberbrückbare Kluft tut sich auf. In den letzten 30 Jahren ist die Kultur des Todes, wie Papst Johannes Paul II. sie nennt, enorm vorangeschritten. Sie hat sich in den Hirnen und Herzen einer wachsenden Zahl von Mitbürgern eingenistet.
Längst sind wir soweit, daß eine satte Mehrheit für die Beibehaltung der Abtreibung eintritt, daß eine wachsende Zahl von Menschen mit der Euthanasie sympathisiert, daß Regierungen die Forschung an Embryonen, also an Menschen in den ersten Phasen ihres Lebens, forcieren. Zugegeben, über letzteres wird auch noch gestritten. Aber Sie werden sehen: Bald gehört auch das zum Inventar des fortschrittlichen Denkens.
Keine Sorge, ich stimme jetzt kein endloses Klagelied an, obwohl dies angesichts der Umstände angebracht wäre. Worum geht es dann aber? Darum, sich nicht an das Fortschreiten der Kultur des Todes zu gewöhnen und blind zu werden für die Ungeheuerlichkeiten, die in unserer Zeit geschehen. Sie sind außerdem - wie wir aus den bisherigen Erfahrungen sicher ableiten können - Vorboten für weitere Greuel. Was uns heute utopisch erscheint, wird nur allzu leicht zum Alltäglichen von morgen.
Was meinen Sie, liebe Leser, was im überalterten Europa ohne Nachwuchs geschehen wird, wenn die Zahl der alten, kranken und pflegebedürftigen Menschen so zunimmt, wie es die Demographen voraussagen? Was, wenn die schon jetzt überforderten Gesundheitssysteme restlos unfinanzierbar geworden sind? Man kann es sich an den zehn Fingern abzählen: Euthanasiegesetze werden Hochkonjunktur haben. Niemand wird ernsthaft glauben, daß diese Regelungen auf Holland und Belgien beschränkt bleiben werden, wenn sich das Altenproblem verstärkt und die Zahl der schwer Leidenden massiv wächst. Und ist es wahrscheinlich, daß Ärzte, die sich bis dahin ans Töten gewöhnt haben, jedesmal einen enormen Aufwand treiben werden, um herauszufinden, ob der Todeswunsch eines Patienten auch wirklich ganz sicher feststeht?
Im Angesicht dieser fundamentalen Bedrohung, muß uns Christen klar sein: Bei der Frage des Lebens wird nicht an einer Nebenfront gekämpft. Da geht es um alles, nämlich um Frage wie: Wer ist der Mensch? Woher kommt er? Wohin geht er? Wem gegenüber ist er verantwortlich? Diese Fragen aber werden heute ganz konträr beantwortet.
Da ist zunächst die vorherrschende Meinung: der Mensch sei ein Produkt des blinden Zufalls, habe sich seit Jahrmillionen aus dem Tierreich entwickelt. Um leben zu dürfen, müsse er in den Plan seiner Erzeuger passen. Über seine Existenz nach dem Tode wisse man nichts genaues. Seine wichtigste Aufgabe sei es, sich zu verwirklichen, nach eigenen Vorstellungen etwas aus sich zu machen, es sich materiell gutgehen zu lassen, zu genießen, so lange es geht. Die anderen? Jeder ist sich selbst der Nächste. Und: “Geiz ist geil", wie es in einer Werbung heißt.
Das ist der geistige Hintergrund für die Entwicklung der Kultur des Todes. In ihr wird das Nützlichkeitsdenken - was bringt es mir? - auf alle Bereiche ausgedehnt. Auch der Mensch wird in dieses Kalkül einbezogen: Was bringt der Alte noch? Welchen Nutzen kann man aus tiefgefrorenen Kleinstkindern ziehen? Wie sehr paßt dieses ungeborene Kind in unseren Lebensplan? Versteckt wird diese Brutalität hinter schönen Fassaden, in der die Menschenrechte in der Auslage stehen (siehe Kasten).
Dem heute propagierten Menschenbild, dessen Logik unsere Gesellschaft folgt, stellt der Christ eine herrliche Vision entgegen: Der Mensch ist Abglanz Gottes in der Schöpfung. Jeder ist vom Schöpfer geliebt und daher liebenswert, ein einmaliges Geschenk an die Welt, seine Existenz stellt eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft dar. Papst Johannes Paul II. artikuliert dies mit wunderbaren Worten in seiner Enzyklika “Evangelium vitae" (siehe Kasten).
In dieser Konfrontation der Weltanschauungen stehen wir vor der drängenden Frage: Ja, was tut man denn in einer so verfahrenen Situation? Wo soll man denn anfangen? In der letzten Ausgabe zum Thema Leben (VISION 6/2002) habe ich Monsignore Philip Reilly diese Frage gestellt. Und er gab mir eine Antwort, die ich hier wiederholen möchte: “Be holy, Sei heilig!" Fast möchte man auf eine solche Aufforderung etwas ärgerlich reagieren. Warum sagt er das mir. Seit Jahren bemühe ich mich mit meinen beschränkten Mitteln, schreibe gegen die Kultur des Todes an, versuche in Diskussionen gegen Abtreibung und Euthanasie Argumente einzubringen - und dann “Be holy!"
Und doch muß ich Father Reilly, der seit Jahrzehnten Frauen, Kinder, Ärzte, Schwestern aus der Kultur der Todes rettet, recht geben. Er hat es im eigenen Leben erfahren: In dem Maß, in dem er sich für das Wirken des Heiligen Geistes geöffnet hat, ist sein Wirken fruchtbar geworden.
“Be holy!" - das heißt zunächst für jeden von uns: Öffne dich für das Wirken des Heiligen Geistes, damit du nicht in Verwirrung gerätst. Von der Einheitsmeinung der Medien beeinflußt, verliert man leicht die Orientierung, den Sinn für Oben und Unten, Rechts und Links - im Geistigen: für Gut und Böse. Die Verwirrung ist aber Wegbereiterin für eine wachsende Lethargie. Wer nicht mehr weiß, wofür er sich engagieren soll, läßt fünf gerade sein. Bald schon akzeptiert er, was rund um ihn gedacht, gesagt und getan wird. Was aber viele denken und tun, wird nicht schon deswegen zum Maßstab. “Bewahre uns vor Verwirrung", beten wir in jeder Heiligen Messe. Und der Heilige Geist bewirkt, worum wir bitten.
“Be holy!" ist weiters ein Appell, das Wissen um die Kostbarkeit unserer Mitmenschen nicht nur als intellektuelle Einsicht zu bewahren, sondern als Ansporn, es im Alltag auch umzusetzen. “Pflege das Leben, wo du es antriffst" ist eine Einladung der heiligen Hildegard, über die Maria Loley (Seite 10-11) wichtiges zu sagen hat. In einer Zeit, die nach dem Außergewöhnlichen, nach Rekorden giert, tut es gut, sich in Erinnerung zu rufen, daß die Weichen im Leben durch alltägliche Kleinigkeiten gestellt werden - durch einen Blick, ein liebes Wort, ein Lob, eine kleine Aufmerksamkeit, kurz durch Zeichen, die uns erfahren lassen: du bist wertvoll, es ist gut, daß es dich gibt. “Be holy!" - wer sich für das Wirken Gottes öffnet, durch den kann der Heilige Geist die lebenssstiftende Liebe Gottes in die Welt einfließen lassen. So werden Kinder, Ehepartner, Freunde oder Mitarbeiter unspektakulär belebt. Fahter Reillys Appell bedeutet aber auch, sich nicht davor zu drücken, in Gesprächen über Fragen des Lebens Stellung zu nehmen. Wie viele Menschen warten auf ein klares Wort, das wieder Richtung weist! Sie werden es wohl dann am besten aufnehmen können, wenn es ihnen liebevoll gesagt wird.
Und für manche bedeutet “Be holy!" in diesem Zusammenhang, einem besonderen Anruf Gottes zum Einsatz für das Leben zu folgen: sich dafür einzusetzen, daß Drogensüchtige aus dem Tod zum Leben kommen, wie Schwester Elvira (Seite 14-16); im Lebenszentrum Frauen davor zu bewahren, ihr Kind zu töten; im Heilungsdienst jenen beizustehen, die schwere Lasten zu tragen haben ... So wächst die Kultur des Lebens mitten in einem vom Tod gezeichneten Umfeld.
Man muß es klar sehen: Es geht heute und morgen noch viel mehr - wie übrigens seit jeher, man lese im Buch Deuteronomium nach - um eine Entscheidung zwischen Tod und Leben, Segen oder Fluch. Tag für Tag, Stunde für Stunde stehen wir vor der Alternative, uns für das eine oder andere zu entscheiden. Die Kultur des Lebens wächst, wo Menschen dem Appell “Be holy!" folgen.
Leben wir nicht in einer großartigen Zeit? Heute wird uns klar vor Augen geführt, worauf es für den Christen ankommt: Nicht nur auf den ausgetretenen Pfaden einer christlichen Kultur dahinzutrotten, sondern ein Leben im Heiligen Geist zu führen.