VISION 20001/2004
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Kinder sollen sich ruhig einmal langweilen

Artikel drucken Dauerbeschäftigung schadet der kindlichen Entwicklung

Der moderne Mensch ist aktiv - am Arbeitsplatz, in der Freizeit, im Alter. Aktivität wird daher schon Kindern verordnet. Nur ja keine Langeweile! Dass Dauerbeschäftigung nicht unbedingt das Beste für die Kleinen ist, macht das folgende Gespräch deutlich.

Sie treten in Ihrem Buch für das Recht des Kindes ein, nichts zu tun. Den Eltern fällt es allerdings schwer, ihre Kinder ohne Beschäftigung zu sehen...

Etty Buzyn: Weil sie glauben, daß ein inaktives Kind eines ist, das seine Zeit verliert. Aber die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten, ist zweifellos ein Zeichen psychischer Gesundheit. Sich zu langweilen ist nämlich eine Erfahrung, die für die Entwicklung wichtig ist. Es ist die Zeit, in der das Kind nicht tätig ist und sich dem Alleinsein stellen kann. Das erlaubt ihm, sich auch mit seinen Gefühlen zu konfrontieren, ihnen nicht davonzulaufen, im Gegenteil, sie in seinem Inneren zum Zug kommen zu lassen. Immer mehr kann das Kind dann auch seine Fähigkeiten entfalten, selbst Geschichten zu erfinden, die es später in seinen Spielen in Szene setzen wird.

Kann also Untätigkeit konstruktiv sein?

Buzyn: Sie ist für das Kind - wie übrigens auch für den Erwachsenen - eine Möglichkeit, sich der Kontemplation hinzugeben, also eine gewisse Art, zur Ruhe zu kommen, die sich bei dauernder Beschäftigung kaum einstellt. Im Nichtstun geschieht auch eine Öffnung: Das Kind entfaltet eine Erfindungsgabe, die es ihm später ermöglicht, sich selbst beschäftigen zu können, sich auf das auszurichten, was inspiriert. Denken Sie an die Wissenschafter: Oft sind es Zeiten der Untätigkeit, in denen sie ihre Erfindungen machen.

Sollte man also Ferien nutzen, um nichts zu tun?

Buzyn: VonJahr zu Jahr werden die Aktivitäten der Kinder aufwendiger. Sie sind nicht einmal imstande, die Welt zu beobachten. Ohne Vermittlung des Bildschirms oder einer Maschine schaffen sie es mittlerweile nicht mehr, Gefühle zu entwickeln. Wir sollten ihnen wenigstens während der Ferien Zeiten gönnen, in denen sie zum Träumen kommen, ohne Aktivismus, ohne daß Dringendes zu erledigen ist.

Kinder, die sich langweilen, sind heute doch meist Kinder, mit denen sich die Eltern zu wenig beschäftigen...

Buzyn: Weil wir in einer Gesellschaft leben, die der Tyrannei des Tuns, der Hyperaktivität unterworfen ist. Sie preist Effizienz und Leistung sogar in den Perioden, die eigentlich der Erholung dienen sollten. Tatsächlich fühlen sich Eltern heute schuldig, wenn sie nicht tolle Freizeitprogramme vorschlagen, die attraktiv wirken und etwas bringen. Man sollte sich jedoch nicht davor scheuen, diesbezüglich gegen den Strom zu schwimmen.

Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen: Vergangenen November, während der Ferien zu Allerheiligen, habe ich meine beiden Enkeln - 12 und 14 Jahre alt - in eine Berghütte mitgenommen. Dort gab es nichts besonderes zu tun. Es war nicht mehr Sommer und auch noch nicht die Zeit zum Skifahren. Wir haben daher unsere Zeit damit verbracht, Holz aus dem Wald zu holen, haben dann den Tischler im Dorf gebeten, es uns zurechtzuschneiden, um daraus kleine Gegenstände als Weihnachtsgeschenke zu basteln. Als die beiden heim zu ihren Eltern kamen, haben sie diesen erzählt, sie hätten eben die schönsten Ferien verbracht. Dabei ist nichts Außergewöhnliches geschehen. Wir haben aber die Zeit miteinander verbracht, gemeinsam etwas getan. Sie sehen, es ist ganz einfach. Es ist gar nicht schwierig, etwas mit Kindern zu unternehmen: ein Gespräch, einen Ausflug... Das kann eigentlich jeder.

Bei den Kindern zu sein, mit ihnen etwas zu tun, ist oft anspruchsvoller, als sie in einen Club oder ein Ferienlager einzuschreiben...

Buzyn: Im Sommer geht es nicht darum, die Kinder zwei Monate lang ununterbrochen mit besonderen und nutzbringenden Betätigungen zu beschäftigen. Versäumen wir nicht die für das innere Wachstum der Kinder so unerläßlichen Zeiten, in denen wir etwas mit ihnen unternehmen. Wer seine Zeit gibt, schenkt Liebe, Zuwendung; damit räumt man dem Kind jenen Platz ein, der ihm zukommt. Wenn ein Kind sagt: “Mir ist fad," höre ich manchmal heraus: “Du gehst mir ab", “Ich will mit dir reden", “Ich will mit dir sein." Gemeinsam Kekse backen, Strümpfe stopfen, etwas basteln - das sind kostbare Zeiten der Begegnung in einem herzlichen Naheverhältnis, Zeiten, in denen die Erinnerungen in flüchtigen, aber kostbaren Momenten Wurzeln schlagen.

Also kein schlechtes Gewissen, wenn man nicht sofort auf “Mir ist fad!" reagiert?

Buzyn: Nein. Lassen Sie da ruhig Zeit verstreichen, etwas Erwartungshaltung und Frustration aufbauen. Wenn Sie der Forderung sofort nachkommen, verhindern Sie damit, daß Ihr Kind seine Möglichkeiten ausschöpft und entfaltet. FranÇoise Dolto erinnert daran, wie wichtig die Mangelerfahrung für die Entwicklung der Persönlichkeit ist. Zunächst einmal, weil es wirkliche Erfüllung gar nicht gibt, sie ist unmöglich. Man muß mit dem Mangel leben lernen, manchmal ihn sogar schaffen. Keine Angst vor der Frustration! Es ist der Lauf der Dinge, daß Eltern - natürlich mit Maß und Ziel - ihre Kinder frustrieren und daß die Kinder protestieren, also reagieren.

Nicht sofort und zu schnell auf die Klage “Mir ist fad" zu reagieren, gibt dem Kind Zeit, selbst eine Beschäftigung zu finden. Es ermöglicht ihm, initiativ zu werden und fördert die Unabhängigkeit seines Denkens. Diese Momente, in denen man nichts tut, diese Momente der Leere sind wichtig, um sich in das Reich der Phantasie vorzuwagen, um eigene, originelle Ideen zu entwickeln, die vielleicht nicht sofort verwirklicht werden können, die es aber dem Kind und später dem Jugendlichen ermöglichen, sich auf Zukünftiges auszurichten. Ansonsten bleibt es im Automatismus der Wiederholung gefangen, in einem Hohlweg, der es daran hindert, von Trampelpfaden auszubrechen. Kurzum: Wer sich langweilt, kann sich Neues, andere Projekte und Lösungen, andere Möglichkeiten ausdenken, sich selbst zu verwirklichen.

Sind nicht Jugendliche, die sich den ganzen Tag ziellos dahinschleppen, Anlaß zur Sorge?

Buzyn: Klar, man kann ein Kind nicht zwei Monate lang sich selbst oder der Langeweile überlassen. Es geht auch nicht darum, die Lethargie mancher Kinder damit zu rechtfertigen. Besonders bei Jugendlichen kann es sich da um eine versteckte Depression handeln. Ich denke da an die jungen Japaner, die einem unerträglichen, hektischen Treiben ausgesetzt sind und die sich dann in ihr Zimmer wie in ein Schneckenhaus zurückziehen und nichts mehr von der Welt wissen wollen. Ich propagiere nicht die Langeweile um der Langeweile willen. Ich bin aber sehr wohl der Ansicht, daß man heute zu viel unternimmt. Nach einem anstrengenden Schuljahr sollte man nicht gleich ein Feriencamp anhängen, wo sich Rafting, Tischtennismeisterschaft und Besuch eines Vergnügungsparks aneinanderreihen. Wir haben es in unserer Gesellschaft, die aus der Leistung einen Kult gemacht hat, mit einem zerstörerischen Überangebot zu tun. Schrecken wir nicht davor zurück, selbst wenn die Jungen anfangs dagegen protestieren, ihnen Zeiten der Selbstbesinnung, Strände der Inaktivität mitten in ihrem Leben intensiver Aktivität zu eröffnen. Sie werden es später nicht bereuen.

Das Gespräch in Famille Chrétienne v. 5.7.03 führte Agnès Flepp. Etty Buzyn ist Psychotherapeutin und Autorin von “Papa, Maman, Laissez moi le temps de rêver!" und “Me débrouiller, oui, mais pas tout seul!" (beide Vlg Albin Michel).

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