Vier Jahre ist es schon her, daß Papst Johannes Paul II. das Fest der Barmherzigkeit Gottes eingeführt hat. Ein wichtiger Akt für unsere Zeit, die in der Kirche noch kaum rezipiert worden ist. Im folgenden Gedanken über die Bedeutung dieses Festes - und eine Einladung, es heuer mitzufeiern.
Papst Johannes Paul II. hat vor 23 Jahren seine zweite Enzyklika geschrieben: “Dives in misericordia - Über das göttliche Erbarmen". In diesem Schreiben nimmt der Papst eine Welt in den Blick, die in ihrer Existenz so sehr bedroht ist, daß er mit eindringlichen Worten die ganze Christenheit einlädt, “mit lautem Schreien den Gott des Erbarmens anzurufen".
“Der zeitgenössische Mensch fühlt diese Drohungen", schreibt der Papst. “Der Mensch von heute stellt sich oft die angsterfüllte Frage nach der Lösung der entsetzlichen Spannungen, die sich über der Welt zusammengeballt haben."
Seit dem Erscheinen der Enzyklika sind 23 Jahre vergangen. Der 11. September 2001 wird von vielen als apokalyptischer Posaunenstoß zu stets neuen terroristischen Plagen empfunden. Die Ängste vor globalen ökologischen “Zornesgebärden" mehren sich, die Ängste vor neuen, epidemisch sich ausbreitenden Krankheiten, vor dem Kampf der Kulturen. Das gesellschaftliche und persönliche Leben erliegt zusehends größerer staatlicher und polizeilicher Kontrolle.
Der Mensch verspürt eine unheimliche Enge, von der auch der Papst in seiner Enzyklika spricht: “Der Mensch fürchtet mit Recht, Opfer einer Unterdrückung zu werden, die ihn der inneren Freiheit und der Möglichkeit beraubt, die Wahrheit auszusprechen, von der er überzeugt ist; die ihm seinen Glauben nehmen möchte und die Möglichkeit, den rechten Weg zu gehen, den ihm die Stimme des Gewissens weist."
Der Christ, der die Zeichen der Zeit sieht und zu deuten versteht, weiß um die tieferen Zusammenhänge zwischen dem Tun des Menschen und der Macht und der Entfesselung des Bösen in dieser Welt.
Wo Menschen und Regierungen sich lossagen von ihrer Bindung an eine höhere Welt, wo im Egoismus dieser Zeit Millionen ungeborener Kinder vernichtet, wo Ehe und Familie nicht mehr geschützt werden, die wahre Liebe im Sinnengenuß erstickt, das Schreien der Armen kaum gehört wird, dort bewegt sich die Welt auf ihren Untergang hin.
Das alles sieht der Papst und um alle diese Dinge weiß er wie kein zweiter. Aber: Er weiß auch um die Macht der erbarmenden Liebe Gottes an uns Menschen. Er sieht darum einen Ausweg aus unserer ausweglosen Situation. Er sieht ihn im Göttlichen Erbarmen, im Schrei nach dem göttlichen Erbarmen.
Der Papst gründet seine Hoffnung auf die Bibel, auf das Buch der göttlichen Erbarmungen seit den Anfängen der Menschheit. Er weiß, daß Gottes Erbarmen durch allen menschlichen Starrsinn, durch Sünde und Unheil hindurch immer wieder gesiegt hat und daß “Barmherzigkeit ein anderer Name für Gott ist" (Luigi Guissani).
Jesus Christus am Kreuz ist das göttliche Erbarmen. Das durchbohrte Herz des Erlösers ist das weitgeöffnete Tor für eine verlorene Welt. “Ich wünsche", sagt Christus zu Schwester Faustyna, “daß das Fest der Barmherzigkeit Zuflucht und Unterschlupf für alle Seelen wird, besonders für die armen Sünder. An diesem Tag ist das Innere Meiner Barmherzigkeit geöffnet; Ich ergieße ein ganzes Meer von Gnaden über jene Seelen, die sich der Quelle Meiner Barmherzigkeit nähern ... An diesem Tag stehen all Schleusen Gottes offen, durch die Gnaden fließen ... Die Menschheit wird keinen Frieden finden, solange sie sich nicht zur Quelle Meiner Barmherzigkeit hinwendet."
Warum muß die Kirche gerade heute das Erbarmen Gottes laut und eindringlich verkünden? Tut sie es nicht schon seit 2000 Jahren? Gewiß, aber nicht laut und eindringlich genug! Denn: Außerordentliche Zeiten verlangen außerordentliche Mittel. Wir stehen heute, heilsgeschichtlich gesehen, wie am Anfang, wie vor 2000 Jahren, als Paulus verkündete: “Wo die Sünde mächtig wurde, da ist Gottes Gnade (Erbarmen) übergroß geworden" (Röm 5,20).
Das ist unsere Situation. Vor 130 Jahren schrieb Kardinal Newmann an einen Freund: “Es wird eine Periode weitverbreiteten Unglaubens kommen; und all die Jahre hindurch sind tatsächlich die Wasser wie eine Sintflut gestiegen. Ich sehe nach meinem Tod die Zeit kommen, wo nur noch die Spitzen der Berge, Inseln gleich, in der Wasserwüste sichtbar sein werden."
Nun sagt uns die Bibel (Mk 13,20): “Wenn der Herr diese Zeit nicht verkürzen würde, dann würde kein Mensch gerettet." Es steht uns nicht zu, die erschütternde Ernsthaftigkeit der Botschaft unseres Herrn zu entschärfen. Und auf dem Weg nach Jerusalem, wo der Herr sterben sollte, fragt Ihn einer: “Herr, sind es nur wenige, die gerettet werden? Jesus sagte zu ihnen: Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen: denn viele, sage ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen nicht gelingen." (Lk 13,23-24)
Die Kirche erreicht heute nur noch verhältnismäßig wenige mit ihrer Botschaft und Liebe. Viele Menschen leben ohne das Licht der Hoffnung. Sie sind, biblisch gesprochen, im Dunkel der Sünde: tot. Sie sind in ihrem Leben dem lebendigen auferstandenen Christus nie begegnet.
Darum sterben immer mehr Menschen, ohne zu wissen, wohin sie sterben. Und immer mehr erkaltet in unserer Welt die Liebe: zu Gott, zu den Kindern, zum Leben, zu den Menschen, zur Schöpfung. “Es wird Nacht und immer mehr Nacht", hat Nietzsche diesen kommenden Zustand beschrieben. In diese verlorene Welt hinein muß das suchende Erbarmen Gottes “mit lauter Kehle" verkündet werden. So will es der Herr. In dieser erkalteten Welt muß überall das Feuer der erbarmenden Liebe Gottes angezündet werden.
Und in der Tat - jeder Priester kann es bezeugen: Es gab wahrscheinlich kaum jemals so überwältigende Bekehrungen wie heute. Es gab kaum einmal so viel Erbarmen an Menschen, die sich in dämonischen Abgründen der Sünde und des Bösen verstrickt hatten wie heute. Die Zeit der Barmherzigkeit ist angebrochen. Gott selbst will das Verlorene suchen. (Ez 34,16)
Darum muß die Kirche heute das Erbarmen Gottes in besonderer Weise auch lobpreisen, daß Er in Seinem Erbarmen so unbegreiflich ist, so wunderbar, so unfaßbar für den Verstand der Menschen und Engel. Darum ist der Kirche der “Sonntag der Barmherzigkeit" geschenkt: Damit der ganze Erdkreis in dieses Lob, in diesen Dank und in diese Anbetung des Erbarmens Gottes einstimmt.
Denn ohne dieses Erbarmen Gottes kann kein Mensch gerettet werden. Jeder Mensch muß sich dessen bewußt sein: “Würdest Du, Herr, unserer Sünden gedenken, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei Dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht Dir dient." (Ps 130,3)
So streckt uns Gott in der Sendung der heiligen Faustyna nochmals Seine erbarmende Vaterhand entgegen, damit wir sie ergreifen und keiner verlorengehe, sondern das ewige Leben habe (Joh 3,16). Und wenn wir heute den Ernst dieser Botschaft auch noch nicht ganz verstehen, so soll uns das nicht hindern, in das Gebet um das Erbarmen Gottes für die ganze Welt und in den Lobpreis der erbarmenden Liebe einzustimmen.
Wir sollten auch folgendes nicht übersehen: Die Botschaft der Sr. Faustyna will dem Herrn den Weg bereiten, die Welt auf Seine zweite Ankunft vorbereiten. “Du wirst die Welt auf meine endgültige Wiederkunft vorbereiten", sagt Christus zu ihr.
An zwölf Stellen spricht Christus ausdrücklich von Seiner Wiederkunft, die jetzt, in dieser Stunde, durch die Gnade der Barmherzigkeit eingeleitet wird. “Ehe ich als gerechter Richter komme, öffne ich weit die Tür Meiner Barmherzigkeit."
Maranatha! Komm, Herr Jesus! Halleluja!
Anregungen
Zur Lektüre empfohlen:
* Tagebuch der hl. Faustyna Kowalska, von Stanislaw Swidzinsiki, Parvis Verlag
* Die Botschaft der Barmherzigkeit Gottes, Laumann- Verlagsgesellschaft,,
D-48249 Dülmen (Ist eine Kleinschrift, die die Botschaft zusammenfaßt und übersichtlich darstellt)
Wer in seiner Pfarre keine Gelegenheit hat, den 2. Sonntag der Osterzeit als Fest der Barmherzigkeit Gottes mitzufeiern, könnte es privat tun und sich ganz bewußt für das barmherzige Wirken des Herrn öffnen. Besonders empfohlen wird das Feiern zusammen mit der Familie oder einer (Gebets-)Gruppe.