Mehr denn je gewinnen im leidgeprüften Heiligen Land die Worte Martin Luther Kings aktuelle Bedeutung: “Haß kann den Haß nicht austreiben, nur die Liebe kann es tun." Daß nicht dem Terror, sondern dem Vertrauen die Zukunft gehören muß - dafür steht auch der Name Mirjam Baouardy. Die von Papst Johannes Paul II. 1983 selig gesprochene palästinensische Ordensfrau ist durch ihr Leben zur Friedenspatronin für das Heilige Land geworden. Wer war dieses “kleine Nichts", als das sich Mirjam Baouardy gerne selbst bezeichnete?
Am 5. Januar 1846 wurde sie als Kind einer katholischen Familie des griechisch-melkitischen Ritus in dem galiläischen Dorf Iblin, 25 Kilometer von Nazareth entfernt, geboren. Drei Jahre später starben ihre Eltern innerhalb weniger Tage. Sie ließen Mirjam und ihren einjährigen Bruder Boulos als Waisenkinder zurück. Ein wohlsituierter Onkel, der in Alexandrien lebte, adoptierte Mirjam.
Im guten Glauben, seiner Pflegetochter schon im kindlichen Alter einen Lebenspartner aussuchen zu müssen, arrangierte er nach ihrem 13. Geburtstag den Termin für die Hochzeit. Das arme Kind war hilflos gegen diesen moralischen Zwang. Während eine Tante Mirjam die Hochzeitskleider anlegte und sie über ihre ehelichen Pflichten aufklärte, spürte die Dreizehnjährige erneut den starken Ruf des Herrn, den sie schon einige Male wahrgenommen hatte: “Alles vergeht. Gib mir dein Herz, so werde ich stets dir gehören." Mit einer inneren Entschlossenheit ließ die Braut wider Willen die Hochzeit platzen.
Mehr und mehr erkannte die “Kleine Araberin" ihre Berufung als Ordensfrau. Als sie am 15. Juni 1867 die Schwelle des Karmels überschritt, spürte sie eine solche Freude, daß sie spontan die Schwestern bei der Hand ergriff und sie küßte, wie es im Heiligen Land bei großen Festen üblich ist.
Von jetzt an hieß sie Schwester Mirjam von Jesus, dem Gekreuzigten, ein Name, der für sie zu einem Lebensprogramm werden sollte.
Allmählich hatte sich herumgesprochen, daß Mirjam ein von Gott außerordentlich begnadetes Menschenkind war. Selbst seine Wundmale hatte ihr der “Vielgeliebte" geschenkt, um Ihm noch ähnlicher zu werden. Sie aber wurde sich mehr und mehr ihrer Armseligkeit bewußt. Wie litt sie darunter, daß sie kaum ihr orientalisches Temperament zu zügeln vermochte, indem sie manchmal während des Stillschweigens vor Freude laut sang und es nicht einmal merkte, wie sie die heilige Ruhe des Klosters störte.
Um die Jahreswende 1872/73 vertraute Mirjam ihrer Oberin an, daß der Herr einen Karmel in Betlehem wünschte. Mit Recht reagierten ihre Vorgesetzten zunächst etwas zurückhaltend. Doch auch hier würde der Herr Wege finden, um sein Projekt zu verwirklichen. Zu Beginn des Jahres 1874 lernte Mirjam Bertha Dartigaux kennen, die einzige Tochter des Polizeipräsidenten von Pau. Diese erklärte sich großzügig bereit, ihr ganzes Vermögen für die Gründung des Karmels in Betlehem einzusetzen.
Da Mirjam die einzige im Kloster war, die die arabische Sprache beherrschte, übertrug man ihr die Aufsicht der Bauarbeiten. Sie empfing die Lieferanten, feuerte die Maurer und Steinmetze an, stiftete Frieden bei Meinungsverschiedenheiten und sprach ein ernstes, klares Wort, wenn sie Betrügereien entdeckte. Dabei machte sie die Erfahrung, daß man sich aus Liebe zu Gott auch in Kalk und Sand “vergraben" kann.
Die Einweihung des Karmels fand am 25. November 1876 statt. Und schon hatte der Herr dem “Kleinen Nichts" deutlich gemacht, daß auch in Nazareth ein weiteres Karmelitinnenkloster entstehen sollte. Zur Besichtigung des Grundstücks begab sich Mirjam mit einigen Mitschwestern am 10. Mai 1878 auf den Weg. In Latrun machte die Kutsche bei einer Herberge Halt.
Von einer inneren Eingebung getrieben, verließ Mirjam die Gaststätte und rannte querfeldein in Richtung einer verlassenen Ruine. Wenige Schritte davor blieb sie stehen und rief mit großer, innerer Bewegung und Sicherheit: “Hier ist wirklich der Ort, wo unser Herr mit seinen Jüngern in Emmaus gegessen hat." Das Grundstück wurde ein Jahr später von Bertha Dartigaux gekauft und als Schenkung den Karmelitinnen in Bethlehem übergeben.
Und dann kam es zur lang ersehnten Begegnung mit dem Vielgeliebten: Am 22. August schleppte Mirjam zwei Eimer Wasser für die Arbeiter auf einem schmalen Pfad hinauf. Da verließen sie die Kräfte. Sie stürzte auf einen Geranienkasten und brach sich den linken Arm. Zu den herbeieilenden Schwestern sagte sie mit Bestimmtheit: “Ich bin auf dem Weg zum Himmel. Ich werde sterben."
Am 24. August begann sich der Wundbrand auf die Schultern und den Hals auszudehnen. In ihrem Fieberdurst wiederholte sie die Worte des Psalmisten: “Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele nach dir." Es war nicht der gebrochene Arm, der ihr das Leben nahm, es war das Herz, das nach dem Geliebten verlangte.
Als der Papst am 13. November 1983 im Petersdom zu Rom diese kleine Karmelitin zur Patronin des Friedens für den Mittleren Osten erklärte, ahnte er vielleicht noch nicht, wie wichtig sie gerade heute für das Heilige Land geworden ist: “Dieses Land sieht seit Jahrzehnten zwei Völker im Kampf in einem immer noch erbitterten Gegensatz. Jedes dieser beiden Völker hat seine eigene Geschichte, seine eigene Tradition, sein eigenes Schicksal. Und das scheint eine Beilegung des Konflikts sehr zu erschweren... Bitten wir mit dem Psalmisten die neue Selige, daß der Herr ihrem Land Frieden gewähre: Erbittet für Jerusalem Frieden!"
Die junge palästinensische Mystikerin, stellt eine enorme Provokation für unsere Zeit dar. Das “kleine Nichts" aus Betlehem, das “von oben" mit einer verschwenderischen Fülle von Geistesgaben beschenkt worden war, ist geradezu dafür geschaffen, die Überheblichen von ihrem Stolz zu befreien. Die Intuitionen Mirjams erinnern durch ihre Tiefe und Einfachheit an die Weisheitsliteratur der Bibel.
Ihr Lebensmotiv hieß: “Wer die Liebe zum Mitmenschen verletzt, verletzt Jesus selbst". Obwohl sie nahezu Analphabetin war, schenkte sie der Christenheit die Wiederentdeckung des verschollen geglaubten Emmaus-Nicopolis.
Während ihrer Seligsprechungsfeier im Jahre 1983 wurde sie zur Friedensträgerin des Vorderen Orients und im besonderen des Heiligen Landes erklärt: “Weil ihr Lebensstil uns einen Frieden schenken kann, der seine Grundlage nicht im Terror, sondern im gegenseitigen Vertauen hat."
Die Menschen des Mittleren Ostens tragen keinen brennenderen Wunsch im Herzen, als daß dieser Friede Wirklichkeit werde.