Europas Werte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, haben ihren Ursprung in der Botschaft Christi. Abgeschnitten von dieser Wurzel entwickeln sie sich als Wildwuchs, sie pervertieren, wie der Kölner Erzbischof zeigt.
Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext in Europa herrscht ein düsteres Bild vom Menschen vor. Das Große und Heilige ist von vornherein verdächtig und muß vom Sockel gerissen und durchschaut werden. Moral gilt als Heuchelei und Glück als Selbstbetrug. Wer einfach dem Schönen und Guten traut, ist entweder von sträflicher Ahnungslosigkeit oder verfolgt böse Absichten.
Der Verdacht ist die eigentliche moralische Grundkategorie, die eigentliche Haltung. Die Entlarvung ist der größte gesellschaftliche Erfolg. Gesellschaftskritik hat die erste Pflicht zu sein. Die Gefahren, die uns bedrohen, können gar nicht grell und grausam genug gezeichnet werden.
Allerdings ist die Lust am Negativen nicht unbegrenzt. Gleichzeitig gibt es nämlich eine Pflicht zum Optimismus, die nicht ungestraft verletzt werden darf. Wer etwa die Meinung äußern wollte: “Nicht alles in der geistigen Entwicklung der Neuzeit sei richtig gewesen; in einigen wesentlichen Punkten sei eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Weisheit der großen Weltkulturen erforderlich", hat offenbar die falsche Art von Kritik gewählt. Er findet sich einer entschlossenen Verteidigung der neuzeitlichen Grundentscheidungen gegenüber und der Überzeugung, daß die Grundlinien der geschichtlichen Entwicklung “Fortschritt" heißt. Das Gute liege daher in der Zukunft und nirgendwo sonst; das darf bei aller Lust am Negativen nicht bestritten werden.
Eine der folgenreichsten, falschen Grundentscheide der Neuzeit ist der Verzicht auf Transzendenz, das ist auf Gott. Unser Europa wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein mit dem Eigenschaftswort “christlich" definiert. Wir sprachen immer von einem christlichen Europa bzw. vom christlichen Abendland. Die Kultur und die Zivilisation Europas tragen eine Vielzahl grundlegender menschlicher Werte in ihrem Schoß, die ihre Quelle eindeutig im Evangelium Christi haben.
Der europäische Humanismus ist heute jedoch kaum mehr in einer christlichen Sicht der Welt begründet, wo Gott der Schöpfer und höchste Garant dieser Werte und Normen ist. Es fehlt in der europäischen Gegenwart der Bezugspunkt, den das Absolute - nämlich Gott - für diese Werte darstellt. Wenn nun aber die humanistischen Werte und Ideen Europas auf sich selbst gestellt sind und nicht mehr um diesen gemeinsamen Bezugspunkt, um diese Verbindung mit dem transzendenten Absoluten wissen, dann ist dies nicht einfach nur bedauerlich, sondern höchst gefährlich.
Sie scheiden dann nämlich gleichsam auf natürliche Weise giftige Stoffe aus, die langsam das lebendige Gewebe unseres christlichen Abendlandes verseuchen und vergiften und schließlich zerstören, sodaß die abendländische Gesellschaftsordnung kollabieren muß. Hier gilt das biblische Wort: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut" (Mt 12,30).
Die Entkopplung der Werte vom transzendenten Bezugspunkt, von Gott, ist nicht eine neutrale Erscheinung, sondern eine Bedrohung. Unsere europäische Gegenwart trägt darum auf vielfältige Weise solche Todeskeime in sich, die den gesunden Organismus vergiften, ja zum Kollabieren kommen lassen. Man sollte sich nicht beeindrucken lassen von dem Wort: “Du bist ein Kulturpessimist". “Die Wahrheit wird euch freimachen" (Joh 8,32), sagt die Heilige Schrift. Darum müssen wir uns der Analyse der Gegenwart stellen, wie sie nun einmal ist.
Der Wille, die angestammten Rechte eines jeden einzelnen Menschen anzuerkennen und zu gewähren, umfaßt die entsprechenden Verpflichtungen von Seiten der anderen und der Gesellschaft bzw. des Staates. Diese Garantie der Rechte einer jeden Person kann jedoch zu einem hemmungslosen und grenzenlosen Individualismus führen, in dem dann der einzelne so lebt, als sei er seiner Familie, seinem Land, seinem Staat, seiner Gesellschaft, seiner Kirche nichts mehr schuldig. Vielmehr, so meint er, seien es immer die anderen - die Familie, die Gesellschaft, die Kirche -, die ihm etwas schulden. Ein solcher Personalismus gleitet oft in Zügellosigkeit, Anarchie und Narzismus ab. (...)
Ein weiteres Beispiel: Eine omnipotente Naturwissenschaft wird zur großen Gefährdung des Menschen. Die Wissenschaft hat in Europa dazu geführt, die Verfahrensmethoden der experimentellen Forschung auf die Gebiete des menschlichen Lebens, der Kultur, der Religion, der Ethik, der Moral, der Künste, der Erziehung und der Menschenführung auszudehnen. Hierbei kam es zur unheilvollsten Übertragung. Denn um leben, um als Mensch überleben zu können, bedarf das Menschliche von Natur aus der Dauer, der Stabilität, der Gewißheit, des Absoluten, ja des Heiligen.
Nun aber wird der Bereich der Wissenschaft und der Technologie von folgendem geprägt: rasches Veralten des Erreichten, vom Wesen her ständiges Infragestellen der Grundsätze selbst, der Hypothesen und der Ideen. Es zeigen sich hier ein Relativismus und ein Pluralismus, die nicht einfach auf den Menschen übertragen werden können, ohne daß dieser selbst an Leib und Seele verkümmert und schließlich stirbt.
Unsere Frage lautet deshalb: Kann der europäische Mensch aus eigener Kraft all diese Gifte ausschwitzen oder überwinden? Oder kann man berechtigterweise nur dann auf eine Tiefheilung hoffen, wenn die europäischen Werte wieder ihre Quelle finden, ihren gemeinsamen Bezugspunkt: das transzendentale Absolute, das wir Gott nennen?
Auszug aus dem Vortrag des Kölner Erzbischofs am 24. Oktober 2003 in Budapest.