Die EU sei bürokratisch, seelenlos, man müsse ihr eine Seele geben, hört man immer wieder. Aber was bedeutet das eigentlich? Kann man einem Kontinent überhaupt eine Seele geben? Und wie? Fragen, mit denen sich der folgende Beitrag auseinandersetzt.
Nicht nur in katholischer Sicht ist die Seele jenes wunderbare Lebensprinzip, das aus der Materie ein lebendiges Wesen macht. Mehr noch: Die Seele ist es, die den Menschen über das Tier weit hinaushebt. Weil er eine menschliche Seele hat, ist er Ebenbild Gottes. Ein Land hat in diesem Sinn natürlich keine “Seele". Die “Seele Europas" gibt es, wenn überhaupt, nur in einem übertragenen Sinn des Wortes. Ob Europa eine Seele hat oder nicht, hängt von den Europäern ab, genauer gesagt: Von der Beschaffenheit ihrer Seele.
Wie, so frage ich mich, muß die Seele einer repräsentativen Zahl von Europäern geprägt sein, damit man von einer “Seele" Europas sprechen kann? Muß es in ihr technisches Know-how, wirtschaftliche Kompetenz, wissenschaftliche Qualifikation, kulturelle Bildung geben? Nein, so erfreulich viele dieser Qualifikationen auch sein mögen. Es ist wie beim einzelnen auch: Wenn jemand alle diese Qualitäten hätte, sonst aber nichts, könnte er auch ein Nazi-Boss oder ein kommunistischer Funktionär sein.
Was macht den Menschen zu einem Menschen, dem wir wirklich eine “Seele" zuschreiben? In “Familiaris consortio" sagt uns der Papst: Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Gott ist die Liebe. Also ist der Mensch für die Liebe bestimmt. Mit Blick auf dieses Wort würde ich sagen: Der Mensch wird zum Menschen nach dem Plan Gottes in dem Maße, als er ein Liebender wird, ein Liebender ist. Angewandt auf Europa: Wenn eine größere Zahl von Menschen in Europa “Liebende" sind, dann hat Europa eine Seele.
Romantik pur? Ja, wenn mit Liebe irgendein sentimentales Gefühl gemeint wäre. Nein, denn wenn Liebe eine bestimmende und gebieterische Kraft ist, dann ist sie, in Anlehnung an Dante, das Urprinzip des Kosmos. Wir haben ja auch keinen “lieben Gott", lieblich und senil, sondern nur den Heiligen Israels, der “die Liebe" ist.
Wenn die Bestimmung des Menschen die Liebe ist, heißt das: Die Liebe fordert soziale Gerechtigkeit, die Liebe verteidigt die Heiligkeit des menschlichen, unschuldigen Lebens (um es genau zu sagen); die treue, unauflösbare Liebe ist die Seele der Sexualität, die Liebe bestimmt die Beziehung der Religionen zueinander, und die Sehnsucht nach Gott ist nur die Form der Liebe in der Zeit der Pilgerschaft im Dunkel des Noch-nicht-Sehens. Die Bestimmung des Menschen ist die Liebe. Anders formuliert: “Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott" (Augustinus).
Die Kämpfe um die Europäische Verfassung sind bekannt, auch das Resultat. Ich kenne Leute, die sagen: Na ja, was auf dem Papier steht, ist nicht so wichtig. Das stimmt in gewissem Sinn. Nur frage ich mich dann, warum es der anderen, nicht nur gottlosen, sondern gottfeindlichen Seite dann so wichtig war, gegen allen historischen Befund, Gott zu verschweigen - “totzuschweigen" (was für ein bezeichnendes Wort!)? Ist es nicht doch so, daß sich diese Leute tatsächlich gegen die Seele Europas mit Händen und Füßen wehren?
Aber, wird man einwenden, sie sind ja mit den europäischen “Werten" einverstanden, das ist doch nicht so schlecht. Nein, schlecht ist es nicht, aber nicht sehr glaubwürdig, nicht vertrauenswürdig, wenn ich an die Mißachtung des menschlichen Lebens denke und daran, mit welch blindwütiger Konsequenz diese Leute versuchen, die Familie zu zerstören, und - einen Schritt weiter - Europa ungerührt in den buchstäblichen Selbstmord treiben lassen.
Was sind denn die “europäischen Werte", wenn nicht das, was aus der Wurzel gewachsen ist, nämlich aus der jüdisch-christlichen Tradition dieses Europas? Wie sollen diese “Werte" blühen, wenn die atheistischen Wühlmäuse diese Wurzeln abbeißen? Wie will man denn die “Würde des Menschen", auf der sie gründen, verteidigen, wenn der Mensch nach herrschender Ideologie nur Organismus ist? Wie denn? Mit dem Beiwort “höherer" Organismus vielleicht? Warum denn “höher"? Wegen der Erfindung des Computers und der Atombomben?
Diese “Herrschaft" des Menschen ist zwar “Herrschaft", aber Herrschaft in einem furchtbaren Sinn, wenn die Seele fehlt. Die Seele, das ist Verstehen des Menschen als Ebenbild Gottes, Verstehen der Schöpfung als Materie gewordene Herrlichkeit Gottes, die Güte gegenüber allem, was Gott geschaffen hat. Das Konzept des gottlosen und damit entseelten Europas hatten wir gerade erst im letzten Jahrhundert schon zweimal, und beide Entwürfe haben in Strömen von Blut geendet.
Und jetzt wollen bestimmte Kreise Europa wieder so bauen, mit einem anderen Atheismus, aber eben mit Atheismus - wo wird das enden? “Versuchen, irren, daraus lernen" - ein Grundprinzip empirischer Forschung. Warum will man nicht wenigstens dieses Prinzip für Europa anwenden und sagen: Der Atheismus hat uns schon zweimal ins Verderben geführt, bitte nicht ein drittes Mal!
Europa hat eine Seele, wenn eine repräsentative Zahl von Menschen aus dem großen, wunderbaren, beglückenden Erbe seiner jüdisch-christlichen Tradition lebt oder sich wenigstens danach sehnt und weiß, daß es “so" richtig wäre.
Europa braucht nicht eine neue Seele, und es bedarf keiner “Beseelung" - Gott behüte, wenn so etwas von einer Kommission beschlossen würde! Nein, Europa hat eine alte, bewährte Seele, imstande, die ganze Welt zu “beseelen" und zu einem Planeten zu machen, auf dem es sich leben läßt, sogar sehr gut. Wir müssen es nur wie beim Tierschutz machen: Fast ausgestorbene Arten werden in ihrer ursprünglichen Heimat neu angesiedelt, und man schafft “artgerechte" Bedingungen für ihr Überleben. Europa soll wieder werden, was es ist, und diesen Prozeß nennt der Papst auch “Neuevangelisierung".
Große Heilige wie Franz von Sales hatten die Gewohnheit, auf ihren Pilgerreisen den “Engel" der jeweiligen Landschaft zu grüßen. Es wäre gut, wenn wir diesen Verbündeten Europas bäten, uns zu helfen. Er ist nämlich tatsächlich der “Schutzengel Europas", und den brauchen wir dringend.