Alle scheinen zu wissen, was in der Kirche anders laufen müßte. Im folgenden Beitrag werden diese “gutgemeinten" Anregungen auf ihre Bedeutung abgeklopft.
Die Kirche ist auch den säkularsten Medien immer ein wichtiges Anliegen, so scheint es. Vor allem dann, wenn es an ihr etwas zu kritisieren, zu verbessern und zu reformieren gibt, haben alle eine Meinung und viele ein Rezept. Auch jene Zeitgenossen - Politiker und Journalisten zumal - denen man bei Fronleichnamsprozessionen oder bei der Sonntagsmesse eher selten über den Weg läuft, scheinen ganz genau zu wissen, was der Kirche gut täte, wie sie moderner und attraktiver werden könne, was in ihr als Skandal und was als Fortschritt zu betrachten sei.
Woher, so könnte man fragen, wissen so viele Menschen, die fernab der Kirche stehen, so ganz genau, wo die Zukunft der Kirche läge? Und warum kennen jene, die so existenziell mit ihr verbunden sind, ob Laien oder Priester, Ordensschwestern oder Bischöfe, die doch scheinbar so offensichtlichen Auswege aus der noch offensichtlicheren Kirchenkrise nicht? Warum scheint vielen Kirchenfernen so sonnenklar und simpel, wie die Kirche reformiert werden müßte, um wieder zeitgemäß zu sein, während den Verantwortlichen in der Kirche alle die locker vorgetragenen Reformvorschläge schwer bis unmöglich erscheinen? In einer über so viel kirchliche Unvernunft die Köpfe schüttelnden Gesellschaft gibt es nur zwei Erklärungsmuster: Die kirchlichen Amtsträger sind entweder unfähig (“schwach", “weltfremd") oder bösartig (“vormodern", “fundamentalistisch").
Vielleicht aber liegt der Grund des Dissenses darin, daß die ersteren die Kirche in ein hochmodernes, professionelles, zeitgemäßes und kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen, das “Soziales" und “Humanes" bewirbt und verkauft, umgestalten wollen, während die Kirchlichen daran festhalten, daß die Kirche wesentlich und also notwendigerweise immer mehr ist als ein gemeinnütziger Verein. Wenn die Kirche nicht nur ein wohltätiger, gemeinwohlorientierter, gesellschaftlich nützlicher Verein, ein Unternehmen zur Steigerung gesellschaftlicher Solidarität und individueller Moralität ist, sondern ein von Gott gestiftetes Mysterium, dann ist in der Tat Reform nicht leicht und vor allem nicht voraussetzungslos.
Dann ist das Wesen dieser Kirche zu verteidigen und zu beschützen - notfalls auch um den Preis, daß die Kirche den kirchenfernen Zeitgenossen zeitweise wenig professionell, wenig zeitgemäß oder wenig kundenorientiert erscheinen mag. Dann ist auch nicht die Kirche zu ändern, sondern unser Herz und Verhalten. Bekehren ist dann gefordert, nicht begehren!
Ein Beispiel: Wenn wir, selbstverständlich immer klug kommentiert von Theologieprofessoren, lesen dürfen, so und so viele Katholiken seien wegen diesem oder jenem Bischof, diesem oder jenem Ärgernis aus der Kirche ausgetreten, dann schmerzt das selbstverständlich. Aber werden all die Ausgetretenen wieder in die Kirche eintreten, wenn das beklagte Ärgernis behoben beziehungsweise beseitigt wurde? Werden die Ausgetretenen der Kirche die Türe einrennen, um Wiederaufnahme bitten, allsonntäglich zur Messe eilen und in langen Schlangen vor den Beichtstühlen warten (ihre eigenen, nicht der Bischöfe Sünden zu bekennen), sobald der Anlaß des Austritts beseitigt ist? Werden all jene, die der Kirche “wegen der Kirchensteuer" den Rücken kehrten, im Fall der Abschaffung der Kirchensteuer zur Speerspitze der kirchlichen Erneuerung werden? Werden sie der Gemeinde ein Vorbild in Glauben und Leben sein?
Oberflächlich betrachtet mag dies polemisch scheinen, doch die Frage ist ganz ernst gemeint: Kann überhaupt jemand “wegen" eines Pfarrers, eines Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, eines Bischofs, eines Papstes aus der Kirche austreten? Kann jemand wegen der Kirchensteuer, wegen eines echten oder vermeintlichen Skandals, wegen eines Canon des kirchlichen Gesetzbuches aus der Kirche austreten?
Oder ist nicht jeder, der eine menschliche Person und eine Bestimmung rein kirchlichen Rechts zum Anlaß nimmt, der Kirche den Rücken zu kehren, längst im Herzen meilenweit von ihr entfernt, weil er in ihr eine Organisation, einen Verein, eine Institution, aber nicht mehr ein Mysterium des Heilshandelns Gottes sieht?
Wäre die Kirche nur eine irdische Organisationsform der in einem bestimmten religiösen Sinn Glaubenden oder in einer philosophischen Weise Denkenden, dann müßte auch ihre Struktur und ihr Handeln nach rein irdischen Kriterien klug, schlau, angemessen und zukunftsweisend sein.
Dann wäre über Bord zu werfen, was veraltet scheint, und an Innovation einzubringen, was zeitgemäß oder gar zukunftsreich scheint. Dann müßte entsorgt werden, wer die Vereinsharmonie stört, und befördert werden, wer die Organisation attraktiver macht.
Halten wir jedoch daran fest, daß die Kirche - wie das Zweite Vatikanische Konzil auf dem Fundament reicher Tradition formulierte - pilgerndes Gottesvolk (“Volk Gottes" heißt: das Gott gehörende Volk) und mystischer Leib Christi ist, dann gelten andere Maßstäbe. Dann ist nicht irdischer Beifall und gesellschaftliche Akzeptanz das entscheidende Ziel oder das Gütesiegel des kirchlichen Handelns.
Wenn die Kirche pilgerndes Gottesvolk ist, dann sollte sie sich nicht wundern, wenn sie auch heute das Schicksal der alttestamentlichen Propheten oder der frühchristlichen Märtyrer erleiden muß. Wenn die Kirche mystischer Leib Christi ist, dann wäre es geradezu erstaunlich, wenn sie nicht auch heute die Erfahrung der Verleumdung, der Verspottung, des Kreuzwegs und der schmachvollen Hinrichtung erfahren müßte. Aber wenn es so ist, dann muß sie in jedem Augenblick ihrer Geschichte und in jeder ihrer Entscheidungen wie Jesus am Ölberg zum Vater aufblicken und rufen: Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.
Der Autor ist Redakteur von “Die Tagespost".