Viele in der Kirche stellen sich die Frage: Haben die Demütigungen und Leiden, die Nöte und das Versagen, durch die die Kirche in unserem Land in den letzten Jahren gegangen ist, einen Sinn gehabt, oder waren sie nur vertane Zeit, sinnloser Kummer, mit unwiederbringlichem Verlust an Mitgliedern, an Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit?
Ich weiß darauf nur eine Antwort: Ich glaube mit der ganzen Kraft meines (oft kleinen und schwachen) Glaubens (vgl. Mt 8,23-27) fest daran, daß in all den Schwierigkeiten, durch die wir gegangen sind (und noch gehen werden), ein Sinn liegt, für den sich alle Mühe und Not gelohnt hat. Oft ist dieser Sinn nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Ist es nicht auch im persönlichen Leben so, daß oft erst im Rückblick schwierige Zeiten ihren Sinn sehen lassen? Heute bin ich für so manche notvolle Abschnitte in meinem Leben dankbar. Ich bin froh, daß sie vorüber sind, aber ich bin dankbar für das, was sie mich gelehrt haben.
Was lehren uns schwierige Zeiten? Die Bibel zeigt uns eines mit großer Klarheit: Gott ruft sein Volk durch die Prüfungen zur Umkehr! Die 40 Jahre in der Wüste waren für das Volk Gottes die große Schule des Vertrauens auf den, der auch durch die größten Nöte treu bleibt und mit gütiger Hand führt. Die Zeit des Exils war für das erwählte Volk eine Katastrophe. Alles schien aus zu sein: der Tempel zerstört, Jerusalem in Ruinen, das Volk in die Fremde verschleppt. Diese schlimme Prüfung wurde zur großen Gnadenzeit. Auch im Einzelschicksal zeigt uns die Bibel den Sinn des Leidens: Joseph wird von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft. Gott macht aus diesem schrecklichen Geschick den Weg für die Rettung eben jener Brüder, die Joseph umbringen wollten.
Und das Erstaunliche daran: Gott "bedient" sich gewissermaßen selbst der menschlichen Fehler und Sünden, um daraus Gutes werden zu lassen. Ich glaube das und vertraue darauf. Das ist aber kein Grund, Fehler zu vertuschen und Sünden zu verharmlosen. Es ist notwendig, genau hinzusehen, wie es zu den Krisen kam, wo Fehler geschehen sind und was wir daraus lernen können.
Unsere Krisen haben einen Sinn. Zur Gänze sehen wir ihn noch nicht. Aber viele kleine Spuren davon leuchten bereits auf. Da war (und ist) die große Stadtmission mit vielen guten kleinen Schritten eines neuen Mutes zum Glauben. Da ist der so erfreuliche “Weinviertler Pilgerweg". Da ist vor allem bei vielen die persönliche Frage Christi an den einzelnen: Willst du mit mir gehen? Wie kostbar ist dir persönlich der Glaube an mich und die Gemeinschaft der Kirche? Und bist du bereit, mit mir “durch dick und dünn" zu gehen, durch Kreuz und Leid zur Auferstehung?
Wenn das geschieht, dann waren die Nöte nicht vergeblich. Dann kann das alles zum Segen werden. Dann hat es einen Sinn gehabt.
Christoph Kardinal Schönborn.
Auszug aus "Thema Kirche" Okt. 2000