Viele leiden unter den zahllosen negativen Entwicklungen, die heute in der Kirche auch zu beobachten sind. Was kann man da raten? Der folgende Beitrag versucht, Perspektiven aufzuzeigen, die Hoffnung machen.
Nur wenige Ordensleute haben heute das große Glück, in einem lebendigen und mit Berufungen reich gesegneten Kloster leben zu dürfen wie ich. Es ist ein Privileg, in einem Milieu zu leben, wo man das Wehen des Heiligen Geistes spürt, wo man apostolische Fruchtbarkeit auch in der Jugendarbeit erlebt und man das Gefühl hat, daß sich der Einsatz bis zur Selbsterschöpfung lohnt. Leider erleben viele engagierte Priester und Laien das genaue Gegenteil: Trotz übermenschlichen Einsatzes nicht Auf-, sondern Zusammenbruch, nicht Wachstum, sondern Schrumpfen.
Ich bemerke daher immer öfter eine enttäuschte Ratlosigkeit, eine bedrückende Erschöpfung und eine tiefgehende Traurigkeit unter jenen in der Kirche, denen die Evangelisierung ein Anliegen ist. Das Schiff der Kirche wird zwar zurzeit nicht von heulenden Stürmen umtobt (sieht man von kurzlebigen Sommergewittern ab). Es wird auch nicht mit Kanonendonner angegriffen (sieht man von medialen Giftpfeilen ab). Das Problem ist, daß viele das Gefühl haben, daß dieses Kirchenschiff in einer stickigen Flaute dahintreibt - und das ist noch viel bedrückender!
Faktum ist, daß sich viele Aufbrüche und Erneuerungsbewegungen abgestumpft haben. Viele spüren nicht mehr den mitreißenden Wind, der sie am Anfang ihres Einsatzes für die Kirche so kraftvoll vorangetrieben hat. Ich kenne auch viele Priester, die mit heiligem Enthusiasmus begonnen haben, die wirklich ehrlich ausgezogen sind, um die ganze Welt für Christus zu gewinnen - und plötzlich erleben sie an sich selbst Frustration und Traurigkeit, müssen oft sogar um die eigene Berufung ringen.
Was können wir gegen die kircheninterne Traurigkeit tun? Wie können wir die Lähmung persönlich bewältigen? Wie können wir das Gefühl der Flaute überstehen?
Zunächst und allem voraus müssen wir einfach festhalten, daß es in der Nachfolge Christi Situationen gibt, die den Namen “Prüfungen" tragen. Erst der Himmel ist das vollkommene Glück und die unermeßliche Freude. Alle Lust auf Erden steht unter dem Zeichen der Nachfolge unseres gekreuzigten Herrn. Deshalb müssen wir auch mit Situationen rechnen, in denen wir zu Tode betrübt (Ölberg) sind und uns gottverlassen (Golgotha) vorkommen. Solche Situationen erlebt der einzelne, sie können aber auch ganze Epochen prägen.
Wenn wir das Gefühl haben, daß wir an einer “Kirchendepression" leiden, so empfehle ich als erstes, daß wir diese als eine Herausforderung Gottes annehmen. Annehmen, aushalten und ausleiden! Bei Gott zählt ja vor allem die bewährte Treue. Unser Herr selbst hält noch in der Traurigkeit des Ölbergs dem Vater seine absolute Bereitschaft hin: “Mein Vater, wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, geschehe dein Wille." (Mt 26,34). Und in der Aussichtslosigkeit des Kreuzes legt er sich noch ganz in die liebenden Hände dessen, von dem er sich total verlassen fühlt: “Vater in Deine Hände lege ich meinen Geist!" (Lk 23,46)
In der Kirchengeschichte hat es immer wieder Phasen gegeben, wo die Kirche bedrückt und scheinbar schon ganz zerstört war. Und gerade aus solchen winterlichen Zeiten ist oft umso überraschender ein neuer Frühling erblüht. Papst Johannes Paul II. hat 1983 den Jugendlichen in Wien das tolle Wort zugerufen: “Die Mitte der Nacht ist zugleich der Beginn des neuen Tages." Unsere Traurigkeit, daß sich so wenig in den Herzen der Menschen bewegt, müssen wir annehmen und ausleiden.
Die derzeitige Traurigkeit der Eifrigen ist kein Mißgeschick Gottes an Seiner Kirche, sondern wohl seine spezifische Gnade. Natürlich würden wir uns wünschen, daß Gott uns das triumphale Gefühl “We are the Champions" gibt, weil wir siegreich und bejubelt Sein Evangelium in die Welt tragen. Aber das spielt es im Augenblick eben nicht!
Wenn wir aber jetzt die Treue nicht verraten, trotz Lustlosigkeit und Frust treu weitermachen, dann - so bin ich sicher - werden wir eine Fruchtbarkeit ernten, die alle unsere Vorstellungen übersteigt!
Die depressive Atmosphäre ist konkret zum Problem des einzelnen geworden: des Priesters, der erschöpft ist; der Religionslehrerin, die schon nicht mehr mag; des engagierten Mitarbeiters in der Kirche, dem alles zuwider wird, weil jeder zwar sät und sät - und doch so wenig erntet! Die Frage ist: Was kann der einzelne gegen den inneren Frust und seine Null-Bock-Stimmung tun?
Ich möchte hier den Blick auf den klügsten Kopf unter den Theologen empfehlen, auf den heiligen Thomas von Aquin, der schon vor mehr als 700 Jahren über die Depression nachgedacht hat: Er fragt in der Summa theologiae nach den “Heilmitteln gegen die Traurigkeit" (remedia contra tristitiam). Freilich: Es geht ihm um die Traurigkeit im allgemeinen Sinn, nicht nur um die innerkirchliche Depression.
Dabei ist es überraschend, welch psychologisch einfühlende und moderne Heilmittel er empfiehlt. Arznei gegen die Traurigkeit ist für ihn 1. die Lebensfreude, 2. das Weinen, 3. die Freundschaft, 4. die Wahrheit, 5. Baden und Schlafen.
1. Das erste Antidepressivum ist für Thomas die “delectatio", eigentlich der Genuß, die Freude am Leben. Natürlich meint Thomas hier immer den Genuß des Guten und von Gott Erlaubten. Es gibt ja so unendlich viele Dinge, die Gott zu unserer Lebensfreude geschaffen hat: Sie können von Urlaub und Sport bis hin zum spannenden Buch oder einem guten Kinofilm reichen.
Zur Freude eines kirchendepressiven Menschen kann so vieles gehören: von der Teilnahme an einem Lobpreisgottesdienst bis hin zu einer entspannten Viertelstunde vor dem Allerheiligsten. Hier gilt das Motto, das der hl. Bernhard seinem Schüler, dem Papst Eugen III. ans Herz gelegt hat: “Gönne dich dir selbst!"
2. Als zweites empfiehlt Thomas das Weinen. Tränen befreien, lösen innere Verspannungen und Krämpfe. Jesus hat uns nicht dazu berufen, uns in ein Pathos der Unanrührbarkeit zu hüllen. Die Situation ist schlimm, wir dürfen traurig sein, ja wir müssen es sein, denn viele Seelen gehen verloren. Jesus selbst hat über Jerusalem geweint (Lk 19,41).
Warum sollen Eltern nicht über ihre Kinder, Großeltern über ihre Enkeln weinen dürfen, wenn diese sich von Gott abwenden? Warum soll ein Priester nicht vor dem Tabernakel seinen Tränen freien Lauf lassen dürfen, wenn die Herzen der ihm Anvertrauten hart bleiben? Weinen ist echte Trauerarbeit. Ja sogar noch mehr: Ich erinnere an das berühmte Beispiel der heiligen Monika, die jahrelang um ihren Sohn Augustinus gebetet, gelitten und geweint hat. Ein Priester hat ihr das prophetische Wort gesagt: “Geh in Frieden, es ist nicht möglich, daß ein Sohn so vieler Tränen verloren geht."
3. Das dritte Heilmittel gegen die Traurigkeit ist nach Thomas die Freundschaft. Freundschaft besteht aus einem Gleichklang der Herzen, sie ist ein Gottesgeschenk. Wo man sich mitten im heidnischen Frust verlassen und einsam vorkommt, sind gute Freunde unverzichtbar: Menschen, mit denen man auf einer Wellenlänge ist. Menschen, denen man sein Herz öffnen und die schon heilen, indem sie sich die Zeit nehmen, um dazusein und zuzuhören. Gerade für die Zölibatären sind geistliche Freundschaften eigentlich unverzichtbar, um die Ehelosigkeit leben zu können, und trotzdem beziehungsfähig zu werden oder zu bleiben. In der Traurigkeit dieser Zeit brauchen wir Freunde, denn das Wort, das uns wirklich tröstet und weiterhilft, können wir uns nicht selber sagen!
4. Die Melancholie produziert einen Nebel, indem man die Wirklichkeit nicht mehr so sieht, wie sie ist. Daher ist das Heilmittel gegen die Traurigkeit der nüchterne Blick auf die Wahrheit, auf die Realität. Der Traurige sagt: “Niemand liebt mich!" oder “Es ist alles umsonst". Solche Aussagen stimmen nie, sie sind immer nur Ausdruck einer emotionalen Sackgasse. Wie klug ist der heilige Thomas, wenn er einen nüchternen Realismus als Ausweg aus der Sackgasse der Traurigkeit anführt: Es gibt immer jemanden, der einen liebt! Es ist nie etwas umsonst in der Gnadenwirklichkeit Gottes.
Vielleicht kommt unser kirchlicher Frust auch daher, daß wir Gott nicht dankbar sind, für die Wunder und Zeichen, die er an uns und um uns herum schon gewirkt hat. Wir vergessen, wie die neun Aussätzigen im Evangelium, zurückzukehren, um dem Herrn zu danken. Wir nehmen die Gnadenwirklichkeit nicht wahr und lassen uns vorgaukeln, daß alles daneben geht. Also: Augen auf, denn mitten im Nebel leuchtet hell das Licht der Gnade, mitten im Frust gibt es wunderbare Bekehrungen und entsteht ein Heer von Heiligen.
5. Thomas von Aquin war nun wirklich kein Wellness-Guru, sondern ein asketischer Dominikaner. Aber er ahnte um die Wechselwirkung von Leib und Seele, und darum empfiehlt er als Heilmittel gegen die Traurigkeit das Baden und das Schlafen an. Ein heißes Bad ist ein wirkungsvolles Antidepressivum, das Streß und innere Verspannungen abbauen hilft. Und eine ordentliche Mütze Schlaf löst zwar Probleme nicht von selbst. Aber wenn jemand einmal seinen kirchlichen Aktivismus beiseite läßt und sich ausschläft, kann das ein Zeichen von Gottvertrauen sein, denn “den Seinen gibt es der Herr im Schlaf!" (Ps 127,2) Daß es hierbei auf das Maß und die inneren Motive ankommt, ist klar.
Es ist eine große Gefahr, wenn wir, die wir uns großmütig für die Ausbreitung des Evangeliums einsetzen wollen, durch Frustration und Traurigkeit lähmen lassen. Natürlich: die als Gottes Verfügung angenommene Stimmung der Depression ist gnadenwirksam. Auf der anderen Seite ist es unsere Pflicht, uns fit zu erhalten. Wir dürfen und müssen alles unternehmen, um uns froh und zuversichtlich zu erhalten: nicht um unserer selbst willen, sondern wegen der Rettung der Seelen.
Gott will nicht, daß wir zu innerkirchlichen Frustrationsneurotikern werden, denn dann ziehen wir niemanden an. Und wir sind doch die Fischer, denen er zuruft: “Duc in altum!" - “Fahrt unverdrossen und zuversichtlich hinaus auf die Hohe See!" Deshalb dürfen wir die Tips des großen Thomas von Aquin dankbar annehmen. Wir brauchen diese Heilmittel wirklich, denn der Kampf gegen unsere Traurigkeit ist schon zugleich ein Stück Kampf für Gottes Reich.
Der Autor ist Dekan der Theologischen Hochschule in Heiligenkreuz bei Wien.