VISION 20006/2004
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Die Krise - eine Chance

Artikel drucken Die Zeit der fruchtlosen Diskussionen neigt sich dem Ende zu (Von Christof Gaspari)

Schwere Zeiten für die Kirche Österreichs im heurigen Sommer. Die skandalösen Vorfälle im Priesterseminar der Diözese St. Pölten machten weltweit Schlagzeilen. Sie waren ein willkommener Anlaß grundsätzliche Betrachtungen über den Zustand der Kirche anzustellen.

Den vorläufigen Schlußpunkt hinter die österreichische Diskussion setzte eine Fernsehdebatte am 10. Oktober mit Kardinal Christoph Schönborn. Moderator Werner Pelinka faßte die Kirchenkritik zusammen: zu wenig Demokratie, Probleme im Umgang mit den Frauen, den wiederverheirateten Geschiedenen, kurz mit der Sexualität und zu viel Zentralismus. Es gäbe einen Reformstau.

Daß die Botschaft der Kirche immer weniger ankomme, zeige sich überdeutlich an den Austrittszahlen. In den letzten zehn Jahren habe die Katholische Kirche Österreichs eine halbe Million Mitglieder verloren. Nur mehr 880.000 Österreicher besuchten regelmäßig den Sonntagsgottesdienst. Tendenz: weiter fallend.

Zunächst: Diese Zahlen sind unbedingt zu relativieren. Welche Einrichtung des Landes schafft es, Woche für Woche fast eine Million Bürger zu mobilisieren? Und: Welche Gnaden kann Jesus in diesen wöchentlichen Begegnungen wirken! Niemand kann das auch nur annähernd abschätzen.

Dennoch stimmt es: Die Kirche steckt in einer Krise. Aber ist das etwas besonderes? Ist das nicht ihr Normalzustand? Krise - das Wort bezeichnet eine gefährliche Entwicklung, die zu Entscheidungen herausfordert. Dieses Bedrohtsein gehört zur Befindlichkeit der Kirche. Jesus hat die Apostel ausdrücklich auf diese Tatsache aufmerksam gemacht: “In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt." (Joh 16,33)

Das bedeutet also: Die Kirche steuert nie durch ruhige Wasser, denn sie ist kein Verein, in dem alles in Ordnung ist, wenn sich jeder an die Statuten hält und seine Beiträge zahlt. Sie ist immer in Bedrängnis, weil sie in einem Umfeld lebt, das sich nach weltlichen Kriterien richtet. Und daher steht jeder Christ täglich neu vor der Entscheidung, sich für die Spielregeln der Welt oder für den zu entscheiden, der die Welt besiegt hat. In der Geschichte der Kirche war beides meist nicht unter einen Hut zu bringen.

Die Frage ist also nicht Krise - ja oder nein. Die Frage ist vielmehr: Welche Merkmale hat diese Krise? Vor welche Entscheidungen stellt sie die Christen?

Bei der Beantwortung dieser Fragen ist folgendes zu bedenken: Die Krise der Kirche wird heute wesentlich von weltlichen Medien und Kritikern thematisiert. Sie analysieren, was aus ihrer Sicht falsch läuft. Dabei werden die heute gängigen Maßstäbe angelegt. Naheliegend, daß eine Gesellschaft, die sich dem grenzenlosen Fortschritt, also der dauernden Veränderung von allem und jedem, dem Pluralismus der Weltanschauungen, der Liberalisierung, der sexuellen Freizügigkeit, dem Konkurrenzdenken usw. verschrieben hat, an der Kirche einiges auszusetzen hat und ihr daher entsprechende Reformen nahelegt. Aus dieser Sicht ist der Ruf nach Demokratisierung, Frauen als Priesterinnen, Lockerung der Sexualmoral, Aufhebung des Zölibats, usw. verständlich und konsequent. Weil diese Forderungen seit Jahrzehnten - man lese in Publikationen der siebziger und achtziger Jahren nach - erhoben werden, erscheinen sie als die zentralen Diskussionspunkte. Daher meint man leicht: Erzielt man hier einen Durchbruch, ist die Kirche aus dem Schneider, wie man in Österreich sagen würde.

Dem ist aber nicht so. Die Teilnahme an der Stadtmission in Paris hat mir das deutlich in Erinnerung gerufen. Wenn wir immer wieder gebannt auf die “heißen Eisen" schauen und uns in Diskussionen an ihnen festbeißen, kämpfen wir an der falschen Front. Dann übersehen wir leicht, vor welche Herausforderungen uns die aktuelle Krise eigentlich stellt. Die zitierte Stelle aus dem Johannes-Evangelium weist die Richtung: Es gehtdarum, sich für den zu öffnen, der die Welt überwunden hat. Nur Jesus hat “Worte des ewigen Lebens" (Joh 6,68).

Ich habe es in den Tagen von Paris so deutlich wie nie zuvor erfahren, daß sich alles um die Frage dreht: Welche Rolle spielt Jesus Christus in deinem Leben? Setzt du wirklich alles daran, daß Er in dir Wohnung nehmen kann? Erwartest du dir wirklich alles von Ihm? Traust du Ihm zu, dein Leben so zu verändern, daß das Wort von Paulus Wirklichkeit werden kann: “Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir."

Ich weiß - das klingt in vielen Ohren furchtbar fromm, abgehoben von jeglicher Realität, hochgestochen, bestenfalls als Thema für Sonntagspredigten geeignet. Was hat das mit unserem Alltag zu tun?, mögen viele denken.

Verzeihen Sie, liebe Leser, ich möchte dennoch dabei bleiben, weil mein Herz davon voll ist: Wenn die Krise der Kirche irgendeinen positiven Effekt haben soll, kann es nur der sein, daß sie uns näher zu Jesus Christus führt.

Haben wir nicht schon längst alles andere ausprobiert? Wir diskutieren seit Jahren über die umstrittenen Fragen und sind keinen Schritt weitergekommen. Wir lassen uns auf Dialoge ein, hören zu, versuchen den Gesprächspartner ernstzunehmen - was immer geboten ist - und bemühen uns, mit rationalen, wissenschaftlich abgesicherten Argumenten in Debatten zu trumpfen. Aber wann spricht jemand vom eigentlichen Grund seines Glaubens, seiner Freude, von Jesus Christus? Wann haben Sie, liebe Leser, zuletzt über Ihn mit jemandem gesprochen und darüber, was Er für Ihr Leben bedeutet? Ich hoffe, Ihre Bilanz fällt nicht ähnlich mager aus wie meine.

Darin sehe ich den eigentlichen Grund der Kirchenkrise: Es mangelt an begeisterten Zeugen eines Lebens mit Christus. (Als “geübter" Katholik traut man sich kaum, so fromme Sätze zu schreiben.) Müßte es uns eigentlich nicht so gehen wie den Aposteln Petrus und Johannes, die vor dem Hohen Rat ausriefen: "Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben." (Apg 4,20) Ist der Kern der Krise nicht darin zu sehen, daß wir noch zu wenig gesehen und gehört - und daher auch zu wenig zu erzählen haben?

Indem ich solche Fragen aufwerfe, will ich wahrlich niemandem ein schlechtes Gewissen machen. Ich bin der erste, der von dieser Anfrage betroffen ist. Wer aber über die Krise nicht nur klagen, sondern aus ihr Gewinn ziehen will, der erkennt dankbar, daß sie auf Mängel aufmerksam macht, die zu beheben sind. (Jede Schwachstellenanalyse im weltlichen Bereich hat diese Aufgabe.)

Gerade die mangelnde Gottesnähe ist aber ein Zustand, der sich relativ leicht beheben läßt. Da bedarf es nur einer neuerlichen Hinwendung zum Herrn, einer etwas anderen Zeiteinteilung, einer Belebung dessen, was von Routine bedroht ist - und den Rest wirkt der, dem “alle Macht gegeben ist, im Himmel und auf der Erde". (Mt 28,18) Das ist doch ein befreiend: Es hängt nicht alles an uns.

Im allgemeinen wird eine solche Öffnung nicht spektakuläre Aktionen zur Folge haben, wohl aber ein Wachsen in der Freude an der erfahrenen Geborgenheit in Jesus Christus. Früher oder später wird diese ausstrahlen und Fragen in der persönlichen Umgebung aufwerfen. Sie bieten dann Gelegenheit, Zeugnis für die Quelle dieser Freude abzulegen. Wer sich auf diese Weise exponiert, riskiert natürlich, sich lächerlich zu machen - was aber durchaus nicht der Fall sein muß, wie viele Zeugen bei der Stadtmission auf den Straßen von Paris erfahren durften.

Aber selbst, wenn die Botschaft nicht anzukommen scheint, ist das kein Grund zu verzagen, tröstet uns Papst Johannes Paul II.. Wesentlich ist, daß die Wahrheit gesagt wird. Sie habe ein eigenes Charisma: Sie begleitet den, dem sie gesagt wurde bis zu jenem Moment, an dem er sie braucht, um ihn dann zu erleuchten. Wie gesagt, die Rettung der Welt lastet nicht auf unseren Schultern.

Noch einmal: Die Krise der Kirche lädt uns ein, uns selbst als erste Adressaten der Neuevangelisierung zu sehen. Das ewige Klagen bringt nichts. Wir haben in der Vergangenheit genug geklagt. Und wir haben auch genug diskutiert, reformiert und Konzepte entworfen. Jetzt gilt es ernstzunehmen, daß die Zeit der Laien angebrochen ist. Die Neuevangelisierung fordert uns heraus, immer wieder selbst umzukehren, uns neu für den Heiligen Geist zu öffnen, Zeugen Seines Wirkens zu werden, damit Er die Welt dort verändern kann, wo wir stehen.

Das Wort Papst Paul VI., daß die heutige Welt eher den Zeugen als den Gelehrten glaubt, stellt uns vor eine große Herausforderung. Denn vom Zeugen wird erwartet, daß in seinem Leben das heilsbringende Wirken Gottes sichtbar wird.

Und noch ein Gedanke: In der beißenden Kritik an Mißständen in der Kirche schwingt immer auch eine gute Portion Enttäuschung der Außenstehenden mit, die tief in ihrem Herzen eine Ahnung davon haben, daß die Wege Christi, Wege des Heils sind. Sie werden durch unser Versagen in gewisser Weise entmutigt. Und manche Schadenfreude ist nichts als ein gut getarnter Ausdruck der Entmutigung: Es ist also doch nicht wahr! Weil aber das Versagen zum Leben des Christen gehört, muß das Eingeständnis seiner Schwäche ebenso Teil seines Zeugnisses sein wie die befreiende Wirkung seiner Umkehr. Denn daß Umkehr zu Jesus Christus befreit, ist die wesentliche Erfahrung, die wir der Welt schulden.

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