Es war nach einer Jugendveranstaltung, kurz vor Mitternacht. Zwei junge Frauen, etwa 17 Jahre alt, kommen auf mich zu und fragen: “Kommt man in die Hölle, wenn man sich umbringt?" “Wie kommt ihr darauf?", frage ich sie. “Ja, wissen Sie, wir haben genug vom Leben. Wir haben alles gehabt, was einem das Leben zu bieten hat: Freunde, Sex, Drogen, Reisen... Alles Sch... Wir haben genug davon. Wir sehen keinen Sinn mehr. Wir wollen uns gemeinsam umbringen."
“Glaubt ihr an Gott?", frage ich sie. “Ja, eigentlich schon." “Betet ihr zu Gott?" “Nein, eigentlich nicht. Wir wissen nicht, wie man das macht." “Ihr kennt kein Gebet?" “Nein." “Auch nicht das ,Vater unser'?" “Nein." “Ihr sprecht auch nicht mit Jesus?" “Kann man denn mit Jesus sprechen?" ...
Es ist eine Tragik, wenn Kinder, vor allem in den ersten fünf Jahren, nicht beten gelernt haben, wenn ihnen keine festen Gebete, keine Lieder und keine Sprüche aus dem Schatz der Bibel beigebracht wurden, die sie zu jeder Zeit “abrufen" können. Später, wenn sie älter werden, wenn sie eigene Wege suchen und gehen und vielleicht (für eine Zeit lang) dem Glauben und der Kirche den Rücken zukehren, dann gibt es für sie kein Seil, nach dem sie greifen können, keinen Rettungsring, wenn ihr Boot kippt und sie vom stürmischen Wasser in die Tiefe gezogen werden.
Denn die Erinnerung an ein Gebet, an ein Lied kann gerade in Zeiten der Lebenskrisen ein solcher Rettungsring sein. Es kann ein Licht sein, das ganz plötzlich aufleuchtet, wenn Dunkelheit hereinbricht. Ich weiß das von vielen Menschen.
Und davon berichten uns gerade auch solche, die äußerste Erprobungen durchgemacht haben: Menschen in Gefangenen-, in Konzentrationslagern, in Gefängnissen usw. Ein solcher war Ewald Kleist, der wegen seines Widerstands gegen Hitler in Kerkerhaft geriet. Er schrieb an seine Frau: “Es ist von größter Wichtigkeit, daß Kinder viele Kirchenlieder und gute Bibelsprüche lernen und zwar so daß sie diese für das ganze Leben sicher behalten. Das ist wichtiger als die Katechismus-Erklärungen. Auch Erwachsene sollen sich keine Mühe verdrießen lassen, Lieder und Sprüche nachzulernen. Sie helfen wirklich."
Ewalt von Kleist hat es selbst erlebt: in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle, in der Angst vor seiner Hinrichtung. Solche Lieder und Sprüche haben ihn aufrecht gehalten bis zuletzt. In seinen letzten Zeilen, wenige Tage vor seiner Hinrichtung am 15. April 1945 schreibt er seiner Frau: “Es geht heim zum Vater."
Urs Keusch