Er war schon alt, großgewachsen, aber gebrochen an Leib und Seele. Er wohnte ganz am Rande der Stadt, zurückgezogen in einer kleinen, stickigen Wohnung im vierten Stock. Er hatte nur selten Besuch und ging auch nur ganz selten nach draußen. Ich brachte ihm jeden Herz-Jesu-Freitag die Heilige Kommunion für seine einsame Seele.
Mir fiel ein Bild auf, das er auf seinem Stubenbuffet aufgestellt hatte und vor dem manchmal ein Blümlein stand. Einmal fragte ich ihn: “Ist das Ihre Mutter?" - “Nein", sagte er, “von meiner Mutter habe ich kein Bild." Dann schwieg er eine Weile vor sich hin und hob dann wieder an zu sprechen. “Das ist das Bild einer Frau, der ich während ein paar Jahren jeden Herbst das Holz gemacht habe, gesägt, gespalten und in den Schopf getragen. Das letzte Mal, bevor sie starb - ich sehe sie noch heute vor mir, als wär' es gestern gewesen - gab sie mir zum Abschied ein Stück Kuchen, schaute mir in die Augen und sagte zu mir: ,Sie sind ein guter Mensch!'...
Ich lief zu meinem Fahrrad, ich war wie benommen. ,Sie sind ein guter Mensch!', das hat sie mir gesagt, ,Sie sind ein guter Mensch!' Mein ganzes Leben lang bin ich mit meinem Fahrrad nie mehr so leicht den Berg hinaufgefahren wie damals. Es war mir, als bliese aller Wind der Welt in meinen Rücken. Immer hörte ich diese Worte: ,Sie sind ein guter Mensch!'
Wissen Sie, so etwas hat mir sonst den ganzen Lebtag niemand gesagt, im Gegenteil. Immer hieß es zu Hause, als ich noch ein Kind war, aber auch später: ,Aus Dir wird nie etwas!' Und so war es dann auch, obwohl ich meinen Eltern das Gegenteil beweisen wollte. Es ist mir alles daneben gegangen, ich hatte nie Glück. Alles endete irgendwie in einer Katastrophe. Heute bin ich, wie Sie sehen, ein gebrochener Mann, ich lebe einsam und manchmal auch gottverlassen. Manchmal frage ich mich, wozu noch leben? Wozu noch aufstehen und jeden Tag den gleichen Krampf?
Wenn mir manchmal die Erinnerungen an mein kaputtes Leben hochkommen, dann schaue ich mir das Bild dieser Frau an. Dann ist mir manchmal, als sage sie auch heute zu mir: ,Sie sind ein guter Mensch!' Dann spüre ich in mir wieder so eine Freude, und dann mag ich wieder leben.
Sie glauben es vielleicht nicht, aber es ist so: Diese Frau hat mich am Leben gehalten bis heute. Ich hätte mich schon mehr als einmal am liebsten umgebracht. Aber dieses Wort dieser Frau läßt es mich nicht tun. Und manchmal denke ich mir: Vielleicht bin ich doch nicht so schlecht. Vielleicht hat auch der Himmel ein wenig Erbarmen mit mir."
Dieser Mann steht mit seinem Lebensschicksal nicht allein. Nein, er steht für viele, für sehr viele sogar. Irgendwie beginnt fast alles in der Kinderstube, zu Hause, in der Familie. Es beginnt mit dem Sprechen, mit dem Wort - “Im Anfang war das Wort."
Im Anfang vieler tragischer Lebensgeschichten steht eben nicht ein göttliches, nicht ein gutes Wort, sondern ein böses, ein liebloses, ein herzloses, ein unbeherrschtes, ein niederreißendes Wort: “Aus Dir wird nie etwas! Du taugst zu nichts!" Und das Wort wird Fleisch. Es drängt zu seiner Verwirklichung. Wie bei diesem Mann, wie bei ungezählten anderen Menschen.
Als Christus getauft wurde, sprach sein Vater voll Liebe über Sein Kind: “Das ist mein vielgeliebter Sohn" (Mt 3,17). So sollten auch irdische Väter sprechen, und auch die Mütter. Sie sollten ihre Kinder nicht nur spüren lassen, daß sie sie lieben. Sie sollten es ihnen auch sagen, wenn sich dafür vom Himmel die gesegnete Stunde anbietet: “Du bist mein geliebtes Kind."
Niemals dürfen sich Eltern in ihrer Erregung zu einem niederreißenden, zu einem zerstörerischen Wort hinreißen lassen. Ich glaube, es war der große Religionspädagoge Friedrich Wilhelm Foerster, der einmal gesagt hat, man sollte sich in solchen Momenten eher die Zunge durchbeißen, als einem Kind ein böses Wort in die Seele zu schleudern. Ein unbeherrschtes, im Zorn gesprochenes Wort, vor allem wenn es wiederholt geschieht, kann ein Samenkorn sein, das in zehn Jahren aufgeht und die unbegreiflichsten, ja erschreckendsten Wirkungen an den Tag bringt.
Eltern sollten darum, bevor sie über ihre eigenen Kinder zu Gericht sitzen, die sich so ganz anders entwickeln, als sie sich das erträumt haben, ihr eigenes Gewissen prüfen und sich fragen, wie sie zu ihren heranwachsenden Jugendlichen gesprochen haben, als sie noch Kinder waren. Und wenn sie zur Einsicht gekommen sind, daß auch sie Fehler gemacht haben, dann ist es noch nicht zu spät, Gott und ihr Kind um Vergebung zu bitten und nach Wegen der Versöhnung und des Heils zu suchen.
“Herr, stelle eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vor das Tor meiner Lippen", so bittet der Mensch in Psalm 141,3. Das sollte auch das Gebet der Eltern sein, vor allem in Zeiten der Krisen und Auseinandersetzungen mit ihren Kindern, und wenn sie sich überfordert fühlen.
Böse, schroffe, harte Worte in der Erregung gesprochen, sind wie Blitze aus dem dunklen Gewölk des Zorns, die in die Kinderseele einschlagen. Solche Worte sind, biblisch gesprochen, ein Fluch, der oft ein ganzes Menschenleben überschattet, es behindern, ja manchmal zerstören kann. Das hat man schon vor 3000 Jahren gewußt. Der Weisheitslehrer, Jesus Sirach, hat diese Erfahrung so zum Ausdruck gebracht: “Der Segen des Vaters baut den Kindern feste Häuser, doch der Fluch der Mutter reißt die Fundamente aus." (Sir 3,9)
Herr, schenke den vielen Kindern auf der weiten Erde geduldige, liebevolle, selbstbeherrschte und frohe Väter und Mütter, damit sie eine Wohnung haben und selber einmal Wohnung geben können!
Urs Keusch