Die Idee der Menschenrechte gerät heute dadurch in einen überraschenden Widerspruch: Gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben, besonders in den bezeichnendsten Augenblicken des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt. Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen erfreulicherweise inspiriert werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf Weltebene, die sorgfältig darauf achtet, den Wert und die Würde jedes Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse, Nationalität, Religion, Geschlecht, politischer Meinung und sozialem Stand. Auf der anderen Seite setzt man leider in den Taten ihre tragische Verneinung. Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich in einer Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht.
Wie lassen sich diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der Ablehnung des schwächsten, des bedürftigsten, des alten oder des soeben im Mutterschoß empfangenen Lebens?
Diese Angriffe stellen eine fundamentale Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte dar, eine Bedrohung, die letzten Endes im Stande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: Unsere Städte laufen Gefahr, aus einer Gesellschaft von zusammenlebenden Menschen zu einer Gesellschaft von Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu werden.
Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs? Vermutlich in einer Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme der anderen und zum Dienst an ihm ermutigt.
Es handelt sich um eine ganz individualistische Freiheitsauffassung, die schließlich die Freiheit der Stärkeren gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist. Die Freiheit besitzt eine wesentliche Beziehungsdimension. Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, sie steht letztlich im Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme des anderen. Meine Freiheit findet an der Freiheit des anderen seine Grenzen.
Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der objektiven Wahrheit nicht mehr anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedes Mal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den Einsichten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern läßt nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune oder Willkür gelten.
In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muß. Dann beginnt jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden Wahrheit zu schwinden: Das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, alles verhandeln zu können, auch das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.
Das Recht hört auf Recht zu sein, wenn es nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird.
Auf diese Weise ist die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln in der Gefahr, den Weg einer “Demokratur" zu beschreiten. Der Staat, das Land ist nicht mehr das gemeinsame Haus, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern es verwandelt sich in eine Art von Tyrannei, die sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit - die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger oder bestimmter Gruppen ist - über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.
Erzbischof Alois Kothgasser
Auszug aus dem Fastenhirtenbrief vom Aschermittwoch 9. Februar 2005