Es ist etwas Ungewöhnliches, eine päpstliche Publikation zu lesen, die keine amtliche Verlautbarung, sondern ein aus philosophischen Gesprächen entstandenes Buch ist, ein Vermächtnis des verstorbenen Papstes zu grundlegenden Glaubensfragen. Zunächst geht es um die Frage nach Gut und Böse: Die sogenannte “Aufklärung" hatte ja den Menschen von der Verbindung mit Gott losgekoppelt und eine falsche Auffassung von Freiheit verkündet. Dagegen hält Johannes Paul II. fest: “Die Freiheit existiert für die Liebe. ... Der Mensch ist nämlich dazu berufen, mit seiner Freiheit die Wahrheit über das Gute anzunehmen und zu verwirklichen."
Denn: “Wenn die Freiheit aufhört, mit der Wahrheit verbunden zu sein ..., schafft sie die Voraussetzungen für moralisch schädliche Folgen, deren Ausmaße mitunter unberechenbar sind."
Diese Auswirkungen sahen wir besonders im 20. Jahrhundert, das seine Wurzeln in der “Aufklärung" hatte. Das Böse bleibt aber auch heute - in anderer Form - aktiv: “Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung ... aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. ... Und auch an anderen schweren Formen der Verletzung des Gesetzes Gottes fehlt es nicht. Ich denke z. B. an den starken Druck des Europäischen Parlaments, homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als eine alternative Form der Familie, der auch das Recht der Adoption zusteht. ... Das geschieht, weil Gott als Schöpfer und damit als Ursprung der Bestimmung von Gut und Böse verworfen worden ist."
Gott bietet aber, solange die Zeit währt, seine Barmherzigkeit an. Das ist der Inhalt der Offenbarungen an Sr. Faustyna, deren Verbreitung dem Hl. Vater ein großes Anliegen war. “Es war, als habe Christus begreiflich machen wollen, daß das Böse, dessen Urheber und Opfer der Mensch ist, an eine ihm gesetzte Grenze stößt, und daß diese Grenze letztendlich die göttliche Barmherzigkeit ist."
Ein zweites Thema des Buches ist die Frage nach Nation, Vaterland und Europa. Der Papst bekennt sich - mit der kirchlichen Tradition - zum Wert der Nation: “Es scheint ..., daß ebenso wie die Familie auch das Vaterland unersetzliche Realitäten sind. Die katholische Soziallehre spricht in diesem Fall von ’natürlichen' Gesellschaften, um auf eine besondere Verbindung sowohl der Familie als auch der Nation mit dem Wesen des Menschen hinzuweisen, das eine eigene gesellschaftliche Dimension besitzt."
Auf diesem Hintergrund betont der Papst, daß der Beitrag, den die ostmitteleuropäischen Staaten für Europa leisten können, die Verteidigung der eigenen Identität ist - gegen die kulturelle Verwüstung in einem europäischen Überstaat.
Im nächsten Abschnitt folgen Klärungen über die Demokratie, auch das ganz klassisch: “In jedem Fall befürwortet die katholische Sozialethik grundsätzlich die demokratische Lösung. .... Man ist jedoch weit davon entfernt..., dieses System zu ’kanonisieren'. Tatsächlich gilt weiterhin, daß jede der annehmbaren Lösungen - Monarchie, Oligarchie und Demokratie - unter bestimmten Bedingungen der Verwirklichung dessen dienen kann, was der wesentliche Zweck der Macht ist: das ’Gemeinwohl'."
Bewegend ist das Gespräch über das Attentat auf das Leben des Papstes und die daran anknüpfende Betrachtung über das Böse, die das Buch beendet: Das “Böse existiert in der Welt auch, um in uns die Liebe zu erwecken, die eine Selbsthingabe ist im großherzigen und uneigennützigen Dienst an denen, die vom Leiden heimgesucht sind. In der Liebe, die ihre Quelle im Herzen Christi hat, liegt die Hoffnung für die Zukunft der Welt. Christus ist der Erlöser der Welt: ’Durch seine Wunden sind wir geheilt' (Jes 53, 5)."
Worüber der Rezensent gestolpert ist: Was “der Wert aufklärerischer Positionen in Bezug auf ... Vernunft und Fortschritt" sein soll, bleibt ihm im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Absurditäten etwa bei Lessing und Kant verborgen. Mindestens hätte ein Gewährsmann für besagten Wert genannt werden können.
Noch eine Stelle ist heikel: “In den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils kann man eine anregende Synthese der Beziehung zwischen Christentum und Aufklärung finden." Diese wird seelsorglich begründet: daß die Kirche den Fernstehenden und sogar den Feinden weit entgegenkommen und sie wie der barmherzige Samariter gesundpflegen wollte. Man erkennt, wie sehr auch der Papst in seinem Wirken auf die andere Seite zugegangen ist (und wie wenig diese das häufig zu schätzen gewußt hat). Das große Herz des Hirten versuchte eben, alle einzuladen und zu umfangen. Aber das geschah manchmal auf Kosten der inhaltlichen Klarheit.
Es empfiehlt sich, das Buch ganz zu lesen, um die Details einordnen zu können. Der Leser erkennt dann das glühende Herz, den tiefen Glauben und überragenden Verstand Johannes Paul II. Eine Pflichtlektüre - nicht nur für Katholiken.
Wolfram Schrems
Erinnerung und Identität. Von Johannes Paul II. Weltbild-Verlag,
Augsburg 2005, 224 Seiten, 14,90 Euro.
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