Der renommierte Bibelwissenschaftler Rudolf Pesch versteht seine “ausführliche Befragung des vierten Evangeliums" als eine Antwort auf die provozierende Frage “Ist der christliche Gott ein Antisemit?" (Daniel Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust, Siedler Verlag 2002). Er geht - “in schonungsloser Selbstkritik" - nach dem Konzilsdokument Dei Verbum vor: Wenn man richtig verstehen will, “muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten".
Das Johannesevangelium spricht etwa 50 Mal recht ungeschützt von “den Juden". Pesch zeigt auf, daß diese Redeweise im Horizont jüdischer Tradition und Geschichtsschreibung steht und vielfach das Volk oder die Bevölkerung von Jerusalem bezeichnet. Eine scharfe Auseinandersetzung führt Jesus nur mit “den Juden, die an ihn geglaubt haben" - aber auch hier ist die Bezeichnung nie pauschal, sondern stets im Kontext erkennbar.
Von diesen Passagen wurden auch die übrigen negativ eingefärbt, als sei fast durchgängig von den Jesus gegenüber “feindseligen Juden die Rede", meint der Autor, sieht aber die Schärfe der Auseinandersetzung im Rahmen des Üblichen zwischen Propheten und Volk, “so wie heute engagierte, treue Katholiken von ’der Kirche' - nicht antikirchlich - reden".
Im Zentrum des Buches steht die Einbettung des Johannesevangeliums im Judentum. Johannes berichtet “unwiderruflich und unumstößlich, daß das Heil von den Juden kommt" (4,22). Jesus ist Jude, seine Familie ist jüdisch, er feiert die jüdischen Feste, lehrt als Rabbi in Tempel und Synagoge, Seine Hoheitstitel sind jüdische Erkenntnisse. “Es gehört zu den Absurditäten des 20. Jahrhunderts, daß man im Dienste des Nationalsozialismus Jesus zum Arier erklären wollte - auch eine Hypothek auf der exegetischen Forschung im Dritten Reich."
Pesch belegt, daß sich Jesus an die Tora hält, sie jüdisch auslegt. Jesus beruft sich auf Moses als Zeuge für seine Sendung, die Er als Sammelbewegung begonnen hat. “Wer sich die Tora ins Herz schreiben läßt" (Jer 31,32), kann Jesus als den Gesandten Gottes erkennen. Die Spaltung, von der Johannes redet, ist keine zwischen Synagoge und Ekklesia, sondern eine innerhalb Israels, zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Diese - und nicht das toratreue Israel - sind gemeint mit der Redeweise von “den Juden".
Pesch sieht im Johannesevangelium “ein Dokument einer innerfamiliären, innerjüdischen und innerkirchlichen Auseinandersetzung" über den von “Moses und Jesus übereinstimmend vorgetragenen Verweis auf die Taten Gottes, die sichtbar waren und Glauben verdienten". Das Johannesevangelium deckt jedenfalls den Antisemitismus der Jünger Jesu nicht, sondern entlarvt ihn als Sünde. Der Autor ergänzt seine Analyse mit Hypothesen über den Verfasser des Johannesevangeliums als Vorsteher einer heidenchristlichen Gemeinde. Die Schilderungen des negativen Judenbildes im römischen Reich und dessen Übernahme in einzelne Schriften der jungen Kirche veranschaulichen Einzelheiten der möglichen Entwicklung - bleiben aber, was sie sind: Hypothesen.Und die Analyse des gnostischen Einflusses auf das Johannesevangelium wirkt nicht so zwingend wie der “judaische" Hauptteil des Buches.
Das Buch endet mit einer Ermutigung zur Eröffnung des Gesprächs: “Nach dem Holocaust und angesichts des Bruderneids im radikalisierten Islamismus ist spätestens heute die Stunde gekommen, wo sich Juden und Christen gemeinsam auf die notwendige Einheit des von Abraham abstammenden Gottesvolkes besinnen könnten ... Wenn alle Brücken fehlen oder zerstört sind, findet man durch Zurückgehen zur Quelle des Stroms noch einmal zueinander ... Die Einheit des Gottesvolkes gibt der Welt eine Chance. Diese Einheit ist aber ein Gut der Freiheit des Glaubens und eine Bindung in der Agape."
Helmut Hubeny
Antisemitismus in der Bibel? Das Johannesevangelium auf dem Prüfstand.
Von Rudolf Pesch: St. Ulrich Verlag, 2005, 14,90 Euro.
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