Die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Aber es finden auch immer mehr Menschen zu einem Glauben, der sich in den Wirren unserer Zeit als tragfähig erweist. Den vielen Beladenen den Weg zu Christus weisen, ist heute eine der großen Herausforderungen.
Eine mir unbekannte Frau schreibt mir einen Brief. Sie habe gerade mein Buch über den Aufbruch zu einer christlichen Kulturrevolution zu Ende gelesen. Sie sei davon so aufgewühlt, so in der Tiefe froh, daß es sie gedrängt habe, mir das rasch einmal mitzuteilen. Sie sei 35 Jahre alt und habe in den vergangenen Jahren ein mehr als trauriges Leben geführt. Zwar sei sie beruflich erfolgreich; aber sie habe durch all die Jahre immer neue, sie geradezu zerfressende Erfahrungen mit den Menschen in ihrem Umfeld gemacht. Noch vor dem Abschluß der Schule sei sie mit ihrem ersten Freund zusammengezogen, was einen tiefen Riß in der Beziehung zu ihren Eltern ausgelöst habe. Sie sei eben enorm, geradezu blind verliebt gewesen. Dieses Abenteuer nahm schon während ihrer Ausbildungszeit ein Ende - nach scheußlichsten Zerwürfnissen.
Zweimal sei es ihr dann noch ähnlich ergangen. Immer seien die Beziehungen in der Zeit des Zusammenlebens daran zerbrochen, daß man sich gegenseitig üble seelische Verletzungen zufügte, sodaß Trennung jedes Mal unumgänglich wurde. Platz für die Gründung einer Familie sei bisher in ihrem Leben gar nicht möglich gewesen. Durch den beruflichen Streß und die Erwartungen der Chefs an sie habe sie daran schließlich auch kaum mehr gedacht.
Aber nicht dies hätte sie jetzt veranlaßt, mir zu schreiben: Sie habe - von meinem Schrifttum angeregt - den Ausweg gefunden: ihren Eintritt in die Kirche, in die Katholische, vor zwei Jahren, samt Taufe, Firmung, mit Generalbeichte und viel, viel Messe mit Eucharistie. Es sei dadurch etwas Wunderbares mit ihr geschehen. Sie sei mit einer eigentümlich tiefen Art von Sicherheit, von Frieden, mit einer inneren Ruhe beschenkt worden, wie sie das zwar vorher immer gesucht, aber nie gekannt habe.
In der Gemeinde habe man sie liebevoll aufgenommen, und der Pfarrer sei nach all den Einführungsstunden für sie zu einem väterlichen Freund geworden.
„Schreiben Sie mehr, noch mehr solche Bücher“, endet der Brief, „die Menschen unserer Generation wissen ja einfach nicht, was für eine befreiende Wirkung Christsein auf das Leben hat!“
Wie wahr! Und was für ein Anstoß für mich, in VISION darüber zu schreiben; denn genau diese Lücke in der seelischen Situation vieler Einzelner in der derzeitigen jungen Erwachsenengeneration ist auch mir in der psychotherapeutischen Praxis in den letzten Jahren immer häufiger begegnet: Da ist ein riesig großer Bedarf nach seelischer Hilfe entstanden: So viel Streit der Menschen untereinander, in den Ehen z. B. Und wie oft ist Scheidung das traurige Ergebnis - aber ohne daß die Not vorüber ist, schon ganz und gar, wenn Kinder vorhanden sind, um die sich auch nach der Trennung zermürbend weiter streiten läßt.
Endlos ist die Zahl der Auseinandersetzungen mit weiteren Personen des Umfelds: Zwischen Eltern und herangewachsenen Kindern, zwischen den Alten, Gebrechlichen mit ihrem Nachwuchs, zwischen Nachbarn und den vielen Schwierigkeiten mit Mitarbeitern in den Betrieben. So viele gegenseitige Kränkungen! All das „Looser“-Schicksal dazu, das millionenhafte Festhängen in einer Sucht - vom Alkohol und Rauschgift bis zur Magersucht und zur Computerhörigkeit - oft bis zur selbstmordnahen Verzweiflung!
Es sind viel zu viele geworden, denen es langwierig schlecht geht. Viel zu klein ist die Zahl der Psychotherapeuten geworden für eine Quantität von unglücklichen, traurigen, zum Teil auch mit einem Sack von Wut beladenen Menschen, die nicht mehr miteinander zurecht kommen.
Meine Briefschreiberin hat den Ausweg entdeckt. Aber woran liegt es, daß ihn so wenige der Geschundenen finden? Die Bedrängnis ist heute dafür bereits viel massiver als vor 15 Jahren, als durch den Wohlstand und eine ausreichende Menge von Arbeitsplätzen das heranschleichende Ungenügen noch nicht so offensichtlich, noch nicht so unheimlich häufig war.
Aber wenn man genau hinschaut, läßt sich ausmachen, daß es unter den Bedrängten immerhin einige gibt, die den Ausweg entdeckt haben. Einige davon bilden sogar nicht selten neue Gemeinschaften, z. B., in einem reanimierten Gemeindeleben, nicht nur im katholischen Bereich, auch bei den Evangelikalen, Reformierten, Pfingstlern und Baptisten. Man sieht es den Augen dieser Christen an, wenn sie z. B. singend anbeten. Da strahlt etwas auf, etwas, das überzeugt hat, das glückliche Stabilität erwirkte. Was für eine Hoffnung!
Aber gerade deshalb muß die Frage wiederholt werden: Warum ist dieser so wirksame, so heilsmächtige Weg so verdeckt, für viele noch wenig sichtbar, obgleich doch von den Türmen noch die Glocken läuten? Warum wird dafür in der Öffentlichkeit nicht die Werbetrommel gerührt, damit diesen Weg zur inneren Heilung mehr der doch so sehr Bedürftigen finden können?
Nun, zunächst läßt sich diese Frage leicht beantworten: Ein lautstarker oberflächlicher Trend in unserer Zeit sperrt mit vielfältigen Barrieren diesen Weg zu - unter mächtigem medialem Aufwand. Im Bild könnte man sagen: Die Wege des Glaubens werden mit Baustellen - und Sackgassenschildern versehen, sie werden als nicht gangbar markiert.
Man erklärt sie als gefährlich, unwegsam (z. b. als veraltet), man verlacht die als dumm, die es dennoch damit versuchen, und man nötigt hin zu Umleitungen, die, glänzend asphaltiert, leichtes Fortkommen verheißen. Aber nicht selten enden diese Straßen in Tunneln ohne Durchgang, mit Erstickt- und Zertrampelt-werden! In der Tat: Heute den Königsweg des Glaubens zu finden - das ist mittlerweile enorm erschwert worden.
Der zweite Grund für diese Unzugänglichkeit ist ein höchst bedenklicher Mangel an Information: Leben in christlichem Geist - was ist das? Zwar läßt sich erkennen, daß bei den Christen vieles erstaunlich gut läuft, bei manchen geradezu beneidenswert: Die Kinder in diesen Familien sind oft sogar höflich statt frech. Sie sind erfolgreich in der Schule, statt aufsässig und unruhig. Die Elternpaare halten zusammen und entpuppen sich als verträgliche Nachbarn. Als Mitarbeiter sind sie aufgeschlossen für die Nöte ihrer Kumpel und erstaunen die Chefs durch ihr Zupacken in stressiger Situation, ohne sogleich mit Forderungen nach Gehaltszulagen zur Gewerkschaft zu laufen.
Dennoch bringt man ihnen in Wohn- oder Dorfgemeinschaften - jedenfalls bei uns im heidnisch gewordenen Norden mit den einverleibten Bezirken der ehemaligen DDR - Mißtrauen entgegen. Man rätselt: Diese Christen müssen doch wohl eine Art Sparren haben: Sie gehen regelmäßig zur Kirche, womöglich zur katholischen, die ohnehin nur noch in einer Kapelle existiert. Die Kinder lehrt man dort höchst merkwürdige, scheinbar unverständliche, ja geradezu anstößige Sachen: Jungfrauengeburt, unbefleckte Empfängnis, Auferstehung ihres Wunderheilers, nachdem man diesen angeblich unschuldig an einem Kreuz zu Tode gequält hat… Wie soll man da noch heute ahnen können, daß ausgerechnet in diesen scheinbar skurrilen Geschichten die große Chance eines Auswegs aus dem jeweiligen persönlichen Dilemma verborgen ist, von dem so viele Zeitgenossen heute geschüttelt werden?
Im Nachdenken über diese Situation läßt sich das Drängen der Briefschreiberin in der Tat nachvollziehen: Die verelendeten Menschen unserer Welt heute brauchen wirklich eine neue Vermittlung der Erkenntnis, daß der christliche Glaube zu einer beständigen Stabilisierung des seelischen Gefüges zu führen vermag, wenn man ihn nur in Anspruch nimmt! Aber darüber müßten die Menschen heute neu informiert werden!
Selten wird im Religionsunterricht oder in den Predigten plausibel darüber aufgeklärt. Die in den Schulen gelehrte „kritische“ Denkart versperrt zusätzlich den unmittelbaren Zugang. Die Suchenden könnten zwar an den Christen in ihrem Umfeld lernen, daß christlicher Glaube offenbar eine gute Sache ist, eine sehr praktische, Leben vertiefende Angelegenheit; aber die Sprache des Evangeliums müßte heute für die verelendeten Neuheiden zugänglich, quasi übersetzt werden. Die Beschäftigung mit den Wahrheiten des Testaments kann dann z. B. vermitteln, daß all das mühselige Mallochen hier einen Sinn hat, einen einleuchtenden sogar: daß unser Leben ein Ziel hat, ein umwerfend schönes darüber hinaus.
Allein dieser Gedanke schon könnte die verzweifelte Resignation durch die vermutete Sinnlosigkeit des Mühens und des Streitens in die Ferne rücken! Und wenn diese Sperre erst einmal beseitigt ist, muß man natürlich das Buch der Bücher so griffig, so plausibel vermittelt bekommen, wie es nötig ist, damit es in praktische Lebenshilfe umgesetzt werden kann. Das Evangelium enthält schließlich die beste Pädagogik und die lebensnotwendigste Psychologie, mit einer Heilmöglichkeit für die Tiefe der Seele, die einem atheistischen Psychotherapeuten nun einmal nicht zur Verfügung steht. Sich auf das Evangelium einzulassen und es plausibel erklärt zu bekommen - schon das hat zur Folge, daß das Leben erträglicher, ja von innen her manchmal sogar unversehens leicht wird…
Und angesichts dieses Wunders ist es dann auch überhaupt nicht mehr von Belang, daß man zu denen gehört, die angeblich einen Sparren haben… Damit mehr Menschen den Ausweg finden, brauchen wir eigentlich nur noch mehr von der hellwachen Schar selbst begeisterter Bergführer, die für die derzeitige Wetterlage heute situationsgerecht ausgebildet sind: mit festem Schuhwerk, das dem felsigen Grund trotzt, die die Standorte der stillen Brunnen kennen, und die nie vergessen, vor jeder neuen Führungstour den Himmel zu befragen und ihn um Beistand zu bitten.
„Ihr probiert so gern aus“, rate ich meinen jungen Patienten, wenn sie mich nach dem Weg fragen. „Vertraut Euch einem kompetenten Bergführer an! Aber wenn Ihr dann staunend die Lebenskraft aus diesen Brunnen erlebt habt - dann vergeßt nicht denen, die Euch verzweifelt und irritiert nach dem Weg fragen, begeistert zu erzählen, welche Wunder vom Wasser aus diesen Brunnen möglich sind und auf jeden warten, der sich vertrauensvoll auf den Weg des Christseins einläßt.
Das wäre eine christliche Kulturrevolution, wie die Briefschreiberin sie sich erhofft, die wir als Gesellschaft in der Tat existentiell dringend brauchen, damit aus der Kraft von Menschen nach bewältigten Krisen eine glückliche, gesunde Zukunft wachsen kann.