Papst Paul VI. wird am 19. Oktober im Rahmen der Abschlusszeremonien der Weltbischofssynode in Rom seliggesprochen. Aus diesem Anlass eine sehr persönlich gehaltene Würdigung eines vielfach missverstandenen Papstes.
Als vor gut einem Jahr im Buchladen das Buch: Paul VI. – Der vergessene Papst von Jörg Ernesti auflag, da war meine Freude groß, weil ich oft bedauert hatte, dass eine solche Lichtgestalt der Kirche so schnell vergessen werden konnte. Obschon vor über 35 Jahren in die Herrlichkeit des Herrn eingegangen, habe ich mich in all den Jahren immer wieder gerne an Papst Paul VI. erinnert und zu seinen Apostolischen Schreiben gegriffen. Auch Papst Franziskus nannte Paul VI. kürzlich „unser großes Licht“ und sein Apostolisches Schreiben Evangelii Nuntiandi „ein unübertroffenes Dokument der Seelsorge.“
Das Pontifikat Papst Paul VI. fiel in die Zeit, in der ich selbst auf der religiösen Suche war und den Weg zur Kirche zurückfand.
Papst Paul VI. wurde am 21. Juni 1963 zum Nachfolger des hl. Papstes Johannes XXIII. gewählt. Er hat das begonnene II. Vatikanum erfolgreich fortgeführt und am 8. Dezember 1965 zum Abschluss gebracht. Papst Paul VI. war bei den Menschen sehr beliebt.
Trotz dauernder Kränklichkeit machte er zahlreiche Reisen. „Er war der erste Papst, der reiste, der erste, der alle fünf Kontinente betrat und der erste, der ein Flugzeug bestieg“*. Überall wurde er von den Menschen begeistert aufgenommen – bis zu dem Tag, an dem er die Enzyklika Humanae vitae veröffentlichte. „Die Zustimmung zu seiner Person, die zuvor groß gewesen war, schlug fast abrupt in Ablehnung um...“. Auch wenn ihn diese Ablehnung tief schmerzte, wusste er, das Rechte getan zu haben: „Ich bedaure oder bereue nichts. Ich bin ganz sicher, das getan zu haben, was ich tun musste.“ „Es steht ... das Leben der Menschheit auf dem Spiel.“ (Ansprache am 18.8.1974).
Am Ende des Konzils war Paul VI. ausgebrannt. Unter seinen persönlichen Aufzeichnungen findet sich diese Notiz: „Erbarme dich meiner, Herr. Ich bin müde und alt, aber ‚die Liebe hört niemals auf‘.“ Die Zeit nach dem Konzil war dann auch von innerkirchlichen Differenzen und bisweilen von den unerfreulichsten Flügelkämpfen geprägt. Einzelne Kardinäle und Bischöfe stellten sich gegen Papst Paul VI. und das Konzil. Sie schreckten nicht davor zurück, im Fernsehen gegen ihn Stellung zu nehmen, „ein Akt von Illoyalität gegenüber dem Papst, wenn nicht gar von offenem Ungehorsam“.
Hat einmal ein nobler Geist gesagt, „von den Mängeln des Staates soll man sprechen wie von den Wunden eines Vaters“ (E. Burke), so hielt man sich von jetzt an nicht mehr zurück, die Mutter Kirche, die unter ihrer Last förmlich zusammenbrach, zu schlagen, ja, mit Füßen zu treten. Dieser Verrat an Loyalität und Gehorsam von konservativer und progressiver Seite hat dem Leib Christi, der Kirche, beinahe tödliche Wunden zugefügt, aus denen sie noch heute blutet. Seither ist auch in der Kirche der Begriff von sozialer Kultur zusehends abhanden gekommen.
Als Seelsorger schauen wir mit wehem Herzen auf diese Zeit zurück, wo durch unerleuchtete Kritik sowie falsches und selbsternanntes Prophetentum (mit Flugblättern und religiösen Zeitschriften) die besten katholischen Familien infiltriert, viele den Pfarreien entfremdet und auch Sekten zugeführt wurden. Ich selbst habe als junger, suchender Mensch miterlebt, was Ungehorsam und falsches Sehertum (Botschaften, Prophezeiungen) in den Familien anrichten können und wie schwer es ist, solchem Geist gänzlich zu widerstehen und sich schließlich von ihm zu befreien und zu reinigen.
Ich halte im Rückblick die Illoyalität und den Ungehorsam vieler Priester, mancher Bischöfe und Kardinäle zu den folgenschwersten Ärgernissen in der Kirche –bis heute!
„Die Kirche wird geschlagen von denen, die ihr angehören“, rief Papst Paul VI. in dieser Zeit einmal voll Schmerz aus, die „schlimmsten Ärgernisse werden ihr durch die Unbelehrbarkeit und Untreue von gewissen Priestern und Ordensleuten bereitet“. Bei einer Rede vor römischen Priestern in der Sixtina soll Paul VI. das Manuskript sinken haben lassen und mit tränenerstickter Stimme gefragt haben: „Was soll ich tun?“
Die Angriffe auf Papst Paul VI. vonseiten jener, die berufen gewesen wären, ihm brüderlich und tatkräftig zur Seite zu stehen, nahmen ein solches Ausmaß an, dass er über einen Rücktritt nachdachte, hätte diesen aber als Flucht vor der Verantwortung empfunden. Ein spätes Bild zeigt ihn, wie er sich gekrümmt vor Schmerzen zu einer Generalaudienz begibt. Ungeachtet dieser schweren psychischen Leiden hatte er sich zur Eröffnungsfeier des Heiligen Jahres 1975 „trotz seiner Arthrose und der Strapazen des Tages den Bußgürtel umgelegt, wie er es bei außergewöhnlichen Ereignissen gewöhnt war, um sich nicht ‚zu überheben‘ und demütig zu bleiben“. In dieser Zeit seines Pontifikats habe ich zwei oder drei Mal von Papst Paul VI. geträumt. Jedesmal sprach er diese Bitte aus: „Bitte, bete für mich!“ Noch heute sehe ich den leidenden Papst so vor mir. „Viele denken sich den Papst als einen glücklichen Menschen. Nun, ihr sollt wissen, dass sich alle Leiden der Welt in gewisser Hinsicht in seiner Seele niederschlagen, wenn er denn der Vertreter Christi sein will“. (Papst Paul VI. bei einem Besuch einer römischen Arbeitersiedlung.)
Mit dieser Bitte des Papstes an mich ums Gebet verband sich vielleicht dann auch die Gnade, die mich bewahrt hat vor der Versuchung zu Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit, die heute viele, auch konservative Kreise, in der Kirche ergriffen und tief verwundet hat. Niemals ist mir seither die Überzeugung abhanden gekommen, dass unsere Berufung als Christen nur darin bestehen kann, für jene, die von Jesus Christus berufen sind, als Seine Hirten das Volk Gottes zu leiten: zu beten und zu opfern und alles, was wir tun, so zu tun, dass Liebe und Einheit und das Vertrauen in der Kirche aufgebaut und gefördert werden. „Wenn du die Liebe hast, wirst du weder an Christus noch an der Kirche Anstoß nehmen; du wirst weder Christus noch die Kirche verlassen.“ (Hl. Augustinus)
Oft frage ich mich vor dem Antlitz Christi, zurückschauend auf die vergangenen Jahrzehnte nach dem Konzil: Was wäre aus vielen Kindern geworden, wenn ihnen von ihren Eltern – in einer Stunde schwerster Prüfung der Kirche – das Beispiel von Liebe, Geduld und Treue zur Kirche vorgelebt worden wäre, wie dann „die Freude des Evangeliums ihr Herz erfüllt hätte“ (Evangelii gaudium 1) – statt die Kinder mit ihrer Empörung und Kritik gerade eben dieser Kirche zu entfremden? Wie oft haben mich junge Menschen spüren lassen: „Was soll ich in einer Kirche, in der nur kritisiert wird?“
Papst Paul VI. war gegen Ende seines Lebens, als das Kreuz sich schwer auf ihn gelegt hatte, davon überzeugt, dass sich die Kirche wieder auf die kleine Herde zubewegt und dass nur eine kleine Herde Christus und Seinem Evangelium treu bleiben wird. „Er ahnte, dass dies letztlich nur eine ‚kleine Herde‘, die ihrem Hirten folgt, gelingen wird.“
Als Papst Paul VI. seinen Tod nahe fühlte, schrieb er verschiedenen Personen, die es ihm schwer gemacht hatten, einen Brief, um sie spüren zu lassen, dass er ihnen vergeben hatte. Er besuchte sie auch persönlich. Selbst einen Kardinal, der ihm bitter zugesetzt hatte, suchte er in dessen Wohnung auf. Die kurze Sterbephase war schwer und qualvoll, bis ihn der Herr am Fest der Verklärung, 6. August 1978, zu sich nahm.
Seliger Papst Paul VI., erbitte vielen die Vergebung für ihre Sünden gegen den Herrn in Seiner Kirche und den Geist der Umkehr und der Buße. Lass uns erkennen, dass wir in der Kirche und in der Welt die vornehme Berufung haben, „Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, aufzurichten, zu heilen und zu befreien. “ (Papst Franziskus in Evangelii gaudum, 273)
Wenn nicht anders gekennzeichnet, stammen die im Artikel erwähnten Zitate aus dem erwähnten Buch von Jörg Ernesti.