VISION 20005/2005
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Madeleine Delbrêl

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Elisabeth Stoiber)

Madeleine Delbrêl wird 1904 in Mussidan in Südfrankreich als einziges Kind von Jules Delbrêl und Lucile Junières geboren. Als Jules Delbrêl einen Posten in Paris erhält, belegt die erst 16jährige an der Sorbonne Vorlesungen in Philosophie und Geschichte und studiert Kunst an einer Hochschule in Montparnasse. Ihr Vater führt Madeleine in einen Kreis Intellektueller ein, deren Atheismus sie faszinierte: “Mit 15 war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder." Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg tragen die tiefe Prägung von Grauen und Sinnlosigkeit. Wie sollte man in diesem Klima der Sinnlosigkeit noch Sinn finden? Madeleine durchlebt in aller Tiefe die Absurdität des Lebens und die Gegenwart des Todes, der den Menschen in den Straßen täglich zu begegnen scheint.

Laut proklamiert sie: “Gott ist tot". In ihrer Verzweiflung flüchtet sie in den Wirbel des Lebens, betäubt sie ihren Unmut im Jazz, stürzt sich in ihr Studium der Geschichte und Philosophie und verwirklicht ihren Wunsch, etwas ewig “Dauerhaftes" zu schaffen: 1926 gewinnt sie den Sully Prudhomme-Preis, eine renommierte Auszeichnung für ihren Gedichtband “La Route".

Eine Begegnung verändert Madeleines Leben von Grund auf: Sie lernt 1923 Jean Maydieu, der auf Wunsch seines Vaters Ingenieurwissenschaft in Paris studierte, einen dynamischen und zugleich besonnenen jungen Christen auf dem Ball kennen, der anläßlich Madeleines 19. Geburtstags veranstaltet wird. Das große Glück sollte jedoch bald in eine noch größere Verzweiflung umschlagen: Von einem Tag zum anderen verläßt Jean Paris, um bei den Dominikanern in Amiens einzutreten. Von ihrem Hintergrund her fehlt ihr jedes Verständnis für diesen Schritt. Es beginnt für Madeleine aber ein dreijähriges Ringen mit der Frage, wie es Jean möglich sein konnte, ihre Liebe einem Gott zu opfern, an dessen Existenz sie zweifelt.

1956, ein Jahr nach Jeans Ableben, erscheint eine Lebensbeschreibung des jungen Dominikaners. Madeleine hat diese nie aufgeschlagen; sie stand ungeöffnet in der Reihe ihrer Lieblingsbücher. Erst drei Jahre später vermag sie, diese Zeilen an ihre Mutter zu schreiben:"Wir hätten unser Leben tragisch verfehlen können, Jean und ich. Wir waren für etwas anderes geschaffen; das Erwachen hätte schrecklich sein können", zuvor aber durchlebte sie noch Phasen tiefster Verzweiflung.

Ein zweiter Schicksalsschlag bricht über Madeleine herein: 1924 erblindet ihr Vater innerhalb von fünf Monaten. Und noch ein weiteres Faktum ließ Madeleines Stolz auf ihre geistige Unabhängigkeit einstürzen: Viele Freunde Jeans lebten aus einer Sicherheit, die sie nicht verstehen konnte. “Sie sprechen von allem, ja selbst von Gott, der ihnen so unerläßlich wie die Atemluft erscheint".

Was also sollte Madeleine tun? “Ich wählte deshalb, was mir am Besten schien: Ich entschloß mich zu beten (...) dann habe ich, betend und nachdenkend, Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, daß Gott mich fand und daß er lebendige Wirklichkeit ist und man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt."

Für Madeleine ist Gott plötzlich ein “Jemand", der im konkreten Leben zu finden ist, gleichzeitig aber ein unfaßbares Geheimnis bleibt. Auf einem undatierten Blatt wird Madeleines persönlicher Wandel deutlich: “Du lebtest, und ich wußte nichts davon. Als ich wußte, daß du lebtest, habe ich dir gedankt, daß du mich ins Leben gerufen hast; ich habe dir für das Leben der ganzen Welt gedankt."

Madeleine ist kein Mensch, der sich mit Halbheiten zufrieden gibt. Sie erkennt, daß Gott die Liebe ist und versteht, daß von nun an auch ihre Aufgabe die Liebe sein wird. In dieser Zeit erscheint ihr ein Eintritt in den Karmel als einzig angemessene Form, ihre Hingabe an die Liebe Gottes zu leben. Sie verlangt danach “Gott freiwillig anzugehören, so sehr es einem menschlichen Wesen überhaupt möglich ist..." Doch äußere Umstände verwehren ihr diesen Schritt. Die Krankheit ihres Vaters ist schon so weit fortgeschritten, daß Madeleine die Familie nicht allein lassen kann.

Fasziniert von Thérèse von Lisieux geht sie den “kleinen Weg" der Heiligen: Keine großen Werke und asketischen Übungen werden von ihr verlangt, sondern ihre Ganzhingabe in den kleinen Dingen des Alltags. So erkennt sie, daß ihr Weg mitten in die Straßen der Städte führt. Sie weiß, daß es keine Liebe ohne das Kreuz gibt und schenkt ihren Wunsch nach dem Karmel dem Herrn, damit er ihn fruchtbar mache für die Welt.

Zurück in Paris, auf der Suche nach Begleitung und nach Gesprächen mit Gleichgesinnten nimmt Madeleine 1926 Kontakt zur Pfarrei St. Dominique auf. Dort begegnet sie Jacques Lorenzo, der durch seine Begeisterung ansteckt und der bis zu seinem Tod 1958 ihr geistlicher Führer sein wird. Auch schließt sie sich einer Gruppe junger Frauen an, die versuchen, das Leben Jesu in ihr alltägliches Leben umzusetzen mit dem Wunsch, “..in unserer säkularisierten Zeit eine christliche Gemeinschaft zu gründen, die sich unaufhörlich vom Zeugnis der ersten Christen inspirieren läßt" - ein Leben, das genauso einfach und genauso in die Welt eingetaucht ist.

So wird Madeleine gemeinsam mit Hélène und Suzanne im Oktober 1933 nach Ivry, einen Pariser Vorort, geführt, wo sie sich in den Dienst der proletarischen Bevölkerungsschicht stellte. Madeleine war nicht bewußt, in eine Hochburg des französischen Kommunismus geraten zu sein: “Ich entdeckte also gleichzeitig eine kommunistische Stadt, ich, die vom Kommunismus nichts wußte, außer, daß er in Rußland eine Revolution gemacht hatte. Eine ewige rote Fahne wehte auf dem Rathaus."

Mit wachem Geist beobachtet sie das Engagement der Kommunisten, die, im Gegensatz zu den Christen, dem Elend der Arbeiter wirkungsvoll zu begegnen versuchen. Daher trat auch an Madeleine “die Versuchung zum Marxismus zu einer Zeit (heran), wo es noch originell gewesen wäre, ihr zu erliegen." Ihr eingehendes Studium der Broschüre “Lenin und die Religion" beendet diese Versuchung allerdings bald. “Die 30 Seiten der Broschüre hatten zwischen dem Marxismus und mir einen unheilbaren Bruch verursacht." Dieser Bruch mit den Kommunisten bezeichnete Madeleines zweite Konversion.

Bald aber erschütterte ein anderes Ereignis die Welt: “Danach kam der Krieg. Schon in den ersten Tagen ordnete die Regierung an, daß alle kommunistischen Beamten der Stadt ihre Ämter niederzulegen hätten. (...) Als die Stadtverwaltung nach dem Krieg zurückkehrte, bot sie mir einen Platz auf der Wahlliste an." Madeleine lehnt diesen Platz auf der Wahlliste ab, bricht jedoch nicht alle Kontakte mit den Kommunisten ab.

Was war inzwischen aus der kleinen Gruppe geworden, die sich in diesem Ivry mit den vielen Gesichtern angesiedelt hatte? Die Frauen, die nach außen hin ihrem Beruf nachgingen, versuchten in einem Leben nach den Evangelischen Räten auch ein Leben der Kontemplation zu führen. Erschüttert von der geistigen Not und dem Elend der Arbeiter leiten Madeleine und ihre Gefährtinnen eine Krankenpflegestation und besuchen Menschen, die materielle und geistige Hilfe benötigen. Der Lebensstil der Frauen ist einfach und von Anfang an ist ihr Haus allen geöffnet. Ganz bewußt wollen sie eine Laiengemeinschaft sein und sich in Kleidung und Verhalten möglichst nicht von den Menschen ihrer Umgebung unterscheiden.

Schon Jahrzehnte vor dem Zweiten Vatikanum ist es für sie selbstverständlich, daß auch Laien zur Heiligkeit berufen sind: “Wir sind echte Laien, die keine weiteren Gelübde haben als unser Taufversprechen... und die Wirklichkeit unserer Firmung. Die Arbeit dient uns als Ort unseres Zeugnisses für das Evangelium, als Feld der Begegnung mit unserem Nächsten... die Liebe ist es, die den wahren Platz des Laientums ausmacht."

Mit wachen Augen beobachtet Madeleine die neuen missionarischen Bewegungen ihrer Umgebung, auch die der Mission de France, der Arbeiterpriester. In den Jahren 1942 bis 1946 hält sie viele Referate vor deren jungen Seminaristen, zieht sich dann aber langsam von dieser Bewegung, die 1953 verboten wird, zurück.

Die Jahre 1955 bis 1958 sind hart für Madeleine. Der Tod ihrer Eltern, eine langwierige Krankheit sowie Schicksalsschläge und Mißverständnisse um die Mission de France überschatten diese Zeit.

Große Erwartungen verbindet sie mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Mit Begeisterung verfolgt Madeleine sie dessen Vorbereitung und wird 1962 dazu aufgefordert, einen Fragenkatalog zum Thema Atheismus im Volksmilieu auszuarbeiten.

Das Jahr 1964 ist für Madeleine eine Zeit voller Aktivitäten, die sie trotz zunehmender Erschöpfung weiter ausführt: Zahlreiche Podiumsdiskussionen, Begegnungen privaten Charakters und viele andere Tätigkeiten halten sie auf den Beinen. Anfang Oktober hat sie fast alle ihre Arbeiten beendet. Und am 13. Oktober finden ihre Gefährtinnen sie nach einem Schlaganfall leblos in ihrem Arbeitszimmer. Madeleine Delbrêls Seligsprechung ist auf diözesaner Ebene abgeschlossen und derzeit in Rom anhängig.

Ihr Leben hatte sie unter das Motto gestellt: “An den lebendigen Gott zu glauben, der uns liebt, und ihn lieben zu können, indem wir die anderen so lieben, wie er uns liebt."

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