Wie gefährdet die Lage Europas ist, erkennt man wohl besser aus der Distanz, als wenn man mitten im Geschehen lebt. Im folgenden daher Überlegungen eines amerikanischen, katholischen Journalisten, der sich wegen Europas Zukunft sorgt:
Es ist kein Zufall, daß Europas politische Spitzen sich zieren, ihre christliche Herkunft anzuerkennen. Nachdem sie mehrere Generationen hindurch eifrig ihr religiöses Erbe zur Seite geschafft haben, ist Europas kulturelle Elite zu diesem jetzt ganz auf Distanz gegangen. Jenes Land, dem wir den Holländischen Katechismus verdanken, sonnt sich jetzt im perversen Stolz, über eine blühende Porno-Industrie und ein Euthanasiegesetz zu verfügen. In Frankreich, der “ältesten Tochter der Kirche", ist es den Eltern mittlerweile egal, ob ihre Kinder getauft sind oder nicht. Tatsächlich entscheiden sich im alten Europa die verheirateten Paare (wenn sie überhaupt noch heiraten) dazu, keine Kinder mehr zu bekommen - also weder ihr Leben, noch ihren Glauben, noch ihre Kultur weiterzugeben. Europas Kultur liegt im Sterben.
Indem der Vatikan so vehement auf der historischen Bedeutung des Christentums besteht, bemüht er sich, eine Lebensperspektive offenzuhalten, wohl in der Hoffnung, daß später einmal eine weisere Führungsschicht aus dieser Quelle der Stärke des Kontinents schöpfen wird. Wie die Dinge derzeit stehen, gibt es jedoch keine gemeinsame europäische Kultur.
Sicher gibt es politische Führer, die sich mit dem Image schmücken, Verteidiger des europäischen Erbes zu sein. Wenn sie allerdings die zentrale Rolle des Christentums in diesem Erbe nicht erkennen, ist Fremdenfeindlichkeit alles, was sie anzubieten haben. Unfähig zu sagen, was die europäische Kultur denn eigentlich sei, können sie nur darauf hinweisen, daß die Millionen von Immigranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben in ihre Länder strömen, diese Kultur jedenfalls nicht verkörpern.
Immer noch hat die Natur einen Horror vor der Leere, auch der menschlichen. Sobald der “Geburtenmangel" in Europa einen massiven Arbeitskräftemangel hervorrufen wird, werden einwandernde Arbeitskräfte die offenen Arbeitsplätze besetzen. Und wenn die eingesessenen Europäer sich nicht bemühen, den Neuankömmlingen den tradierten Lebensstil zu vermitteln, werden die Immigranten ihre eigenen kulturellen Institutionen entwickeln. Schon heute wachsen die Moscheen aus dem Boden der Städte Europas, weil so viele Einwanderer Muslime sind, allerdings auch deswegen, weil so wenige Europäer auch nur den geringsten Versuch machen, ihre neuen Nachbarn zum Christentum zu bekehren.
Wer heute nach Europa einwandert, begegnet einer Gesellschaft, die ihren Lebenswillen verloren hat. Dennoch bleibt Europa ein angenehmer Ort zum Leben. Es ist attraktiv, sich dort niederzulassen. Wenn die neuen Immigranten ihre eigenen starken kulturellen Bindungen mitbringen, werden sie bald die althergebrachte Dynamik der Kolonialisierung umkehren - und damit jene Ressourcen aushöhlen, mit denen Europa die Gesellschaften Asiens, Afrikas und des Vorderen Orients bereichern könnte.
Man muß sich nicht darum sorgen, daß dieser absehbare kulturelle Umschwung den europäischen Markt gefährden würde oder die politische Struktur der Europäischen Union. Die neuen Einwohner Europas werden die gleiche Motivation haben, eine gesunde Wirtschaft und eine Gesellschaft friedlicher Koexistenz zu fördern. Wir Amerikaner müssen nicht mit dem Verlust eines europäischen Allianzpartners, sondern mit dem Zusammenbruch der europäischen Kultur rechnen: mit der Kultur des Christentums.
In letzter Konsequenz ist ein Zusammenprall von Kulturen eine Konfrontation von Glaubensrichtungen. Bei Wien und Lepanto waren sich die Soldaten, die Europa gegen die Muslime verteidigten haarscharf der Tatsache bewußt, daß sie für ihren Glauben kämpften. Ihre bevorzugte Waffe war der Rosenkranz. Heute, bei der Wiederauflage dieser uralten Auseinandersetzung, läuft Europa Gefahr, unbewaffnet in den Kampf zu ziehen.
Philip Lawler
Der Autor ist Chefredakteur von "The Catholic World Report", sein Beitrag ein Auszug aus der Dezembernummer 2003 der Zeitschrift.