Da hilft nur noch beten – ein oft gehörtes Wort, meist resigniert gesprochen. Für den Autor der folgenden Zeilen hingegen hat sich das Leben durch Beten „fundamental geändert“. Er bezeugt:„Ich habe nicht weniger Probleme, aber ich kom?me besser mit ihnen zurecht.“
Ein normaler Samstag vormittag an einem herrlichen Frühlingstag. Ich sitze am Schreibtisch mit Blick auf den blühenden Garten. Einige Mails sind zu beantworten. Ich bin allerbester Laune, denn gleich werde ich wunderbare Dinge tun: im Treibhaus nach dem Rechten sehen, das Hochbeet bepflanzen und einige Stauden vor der Terrasse eingraben.
Da klingelt das Handy. Am anderen Ende der Leitung ist R., ein Architekt und namhafter moderner Künstler. „Bernhard, hast du heute einmal für eine halbe Stunde Zeit? Es brennt!“
Ich weiß, es geht ihm nicht gut; er kämpft in dieser Krise, in der niemand Geld für Kunst hat, ökonomisch ums Überleben. „Bist du pleite?“, frotzle ich, wie es unter Männern manchmal gut ist. „Wenn es nur das wäre“, gibt R. zurück: „N. dreht durch.“
N. ist seine Frau. „Unser Sohn bekam einen Tumor im Knie wegoperiert. Alles schien gut gelaufen zu sein. Wir lagen uns in den Armen. Dann sagte der Arzt, jetzt müsse man noch die Lunge scannen, um Metastasen auszuschließen. Da brach sie zusammen.“ „Ok, komm' um halb zwei vorbei, wir gehen in den Wald. “
Vor 20 Jahren wäre meinem Freund und mir nicht im Traum eingefallen, das zu tun, was wir tatsächlich taten, als wir den Waldrand erreicht hatten und außer Hörweite waren. Wir packten unseren Rosenkranz aus und machten damit, was man seit 600 Jahren damit in der Christenheit tut, wenn einem das Wasser bis Oberkante Unterlippe steht.
Uns beiden wurde Beten nicht in die Wiege gelegt. R. hat eine wildbewegte Vergangenheit in der Münchener Bohême, die ihn durch mehr Bars und Betten trieb, als seelisch gesund und moralisch vertretbar ist; ich selbst halte mich für einen rational organisierten Menschen, dem alles mysthische Geraune gegen den Strich geht. Vor 20Jahren hätten wir psychologisiert, hätten uns falschen Trost zugelogen und uns Positiv-Denken-Sprüche ans Herz gelegt, die wir selbst nie ausprobieren würden. Darüber sind wir hinweg. Gott sei Dank. Wir beten wieder. Und schämen uns nicht. Wir alten, abgebrühten Intellektuellen schämen uns nicht! Das ist ein kleines Wunder.
Eines muß ich noch hinzufügen. Als wir so im Wald unterwegs waren, betend, beteten wir nicht allein. Kurz nachdem R. angerufen hatte, informierte ich sieben, acht Freunde in ganz Deutschland, die ebenfalls ihr Gebet zusagten: unter anderem eine Punkerin in Berlin, eine Studentin in Erfurt, ein Immobilienmanager in Bonn, ein Autor im Eichsfeld und ein evangelischer Archäologe auf Sylt, der ein bißchen grummelte, weil es denn ausgerechnet der Rosenkranz sein mußte, ansonsten aber feste zu beten versprach. Die Truppe hängt lose zusammen; die meisten kennen einander nicht. Das einzige Organisationsprinzip: Wir glauben, daß Gebete unfehlbar wirken – zwar nicht wie wir wollen, vielmehr wie Gott will; aber das ist ja auch nicht entscheidend. Hauptsache, sie wirken. Wir haben das erfahren, haben es uns zu verschiedenen Gelegenheiten mitgeteilt und gesagt: „Wenn du mal einen brauchst, der in einer wichtigen Sache mitbeten soll, melde dich!“
Und so hat sich – für den, der Augen hat zu sehen – an besagtem Samstag um halb zwei ein kleines Netzwerk des Gebets ereignet, das sich über die halbe Republik hinzog und die arme N. in ihrem Elend nicht allein ließ, sie vielmehr mit einer wunderbaren Wolke von Gebeten umgab. Einander wildfremde Menschen appellierten gemeinsam an das Herz des einen und allmächtigen Gottes und baten ihn um Erbarmen und Segen für N..
Das allein ist schön, ist eine kostbare Geste. Aber ist es mehr als das? Ja, es ist die Nagelprobe des Glaubens. Wenn es Gott gibt und Er wäre taub für unsere Sorgen – wir dürften ihn verachten, ja müßten ihn verachten, müßten massenhaft von ihm abfallen. Aber so ist Gott nicht. Wer Ihn erfahren will, soll sich Ihm in die Arme werfen in restlosem Vertrauen. Es kann sein, daß man damit – wie ich es getan habe – erst anfängt, wenn man mit seinem Latein am Ende ist. Das macht nichts. Mutter Teresa ging es nicht besser: „Ich glaube, es gibt niemanden, der das Gebet so nötig hat wie ich. Ich fühle mich so nutzlos und schwach. Weil ich mich nicht auf mich selbst verlassen kann, verlasse ich mich auf Ihn, 24 Stunden am Tag.“ Darum müssen wir wieder beten.
Bernhard Meuser
Der Autor ist Publizist und Träger des Katholischen Journalistenpreises, sein Beitrag ist in „Betendes Gottesvolk“ erschienen.