Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte begegnet man als Religionslehrer und Priester vielen Kindern: aber es sind nur wenige, an die man sich noch nach Jahren erinnert, weil sie einem irgendwie besonders aufgefallen sind...
Ein solches Kind sehe ich jetzt noch vor mir, obgleich das, was ich jetzt von ihm erzähle, 17 Jahre zurückliegt. Das Kind war damals acht Jahre alt: ein kleines, scheues, hageres Büblein mit einem bleichen, schmalen Gesichtchen. Es sitzt mit etwa 10 anderen Kindern im Halbkreis vor mir und ich frage die Kinder: “Wo ist der liebe Gott?" - “Er ist im Himmel... Er ist überall... Er ist..." Da schaut mich der Kleine verwundert an und ich meine, er möchte etwas sagen, was sonst nicht seine Gewohnheit war.
“Was meinst du?", frage ich ihn, “wo glaubst du, ist der liebe Gott?" Scheu wie ein junges Vöglein, das auf dem Nestrand sitzt, piepst das Büblein die Worte vor sich hin: “Wir sind der liebe Gott." - Ein Kichern geht durch die Reihe. Ich selbst war zuerst einmal sprachlos. Aber dann meinte ich auf einmal zu verstehen, was dieses Büblein sagen wollte. Ich spürte, daß dieses Kind die Einheit mit dem wunderbaren göttlichen Geheimnis des Lebens noch so stark, so intensiv spürte und erlebte, daß man fast ein Jesuswort auf dieses Kind hätte anwenden können: “Ich und mein Vater sind eins." (Joh 10,30)
Sind Kinder nicht eben doch auch noch ein wenig Mystiker? Ist ihnen nicht etwas anvertraut und noch eigen, was den “Größerwerdenden" schon bald abhanden kommt und was wir uns oft in Jahrzehnten der Umkehr und Buße mühsam wieder erkämpfen müssen, wie Jesus sagt: “Das Himmelreich leidet Gewalt" (Mt 11,11)? Warum hat uns Jesus das Kind als lebendiges Beispiel vor Augen gestellt und gesagt: “Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich gelangen"? ( Mt 18,3)
Es muß etwas unfaßbar Wunderbares um das Kind sein! Jesus nimmt in seinem Leben für das Kind in einer Weise Partei, daß es uns bisweilen erschüttern, ja, erschrecken muß. Er braucht für jene, die Kindern ein schlechtes Beispiel geben, sie vom Guten ablenken, die härtesten Worte: “Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde" (Mt 18,6). Warum diese erschreckend harten Worte, die vielleicht nur noch durch jene übertroffen werden, die Jesus von der Sünde gegen den Heiligen Geist spricht?
Ich denke, weil die Sünde gegen das Kind der Sünde wider den Heiligen Geist (fast) gleichkommt. Beides trifft Gott mitten ins Herz. Beides ist Kampfansage gegen die erbarmende Zärtlichkeit der Liebe Gottes. Beides verschließt und verhärtet das menschliche Herz gegenüber der Sehnsucht der barmherzigen Zuwendung Gottes. Denn durch das Kind will Gott an das verhärtete Herz der Erwachsenen rühren. Denn im Kinde spielt der Heilige Geist vor den Augen der “Großen". Wo Kinder zum Bösen verführt werden, dort ist der Liebe Gottes, dem Heiligen Geist, die Möglichkeit genommen, an die Herzen der Erwachsenen zu rühren. “Die Schwachen und Kleinen dieser Erde besitzen nicht nur - nach den Worten des Evangeliums - das Himmelreich, sondern sie verkünden es auch, indem sie den Weg zu ihm freimachen." (Gertrud v. Le Fort).
Ohne die Kinder würde sich das Angesicht der Erde kaum mehr erneuern, weil der Heilige Geist keine Füße mehr hätte, um sich unter die Erwachsenen zu mischen und keine Augen mehr, aus denen er strahlen könnte. Ohne Kinder müßten wir ganz verderben. Und je weniger Kinder es auf der Welt gibt, umso mehr breitet sich das Böse aus. Die Erinnerung an eine bessere, schönere und ewige Welt ginge uns fast ganz verloren. Wie wunderbar hat das der große Pädagoge Fr. W. Foerster zum Ausdruck gebracht, der selbst über viele Jahre hinweg in Zürich Kindern ein liebenswürdiger Erzieher war: “Kinder sind für das noch nicht ganz verhärtete Menschenherz stets wie Osterglocken, die alles auferstehen heißen, was nach oben will im Menschen.
“Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters" (Mt 18,10). - Spüren wir die Leidenschaft, mit der sich Jesus auf die Seite der Kinder, der Kleinen stellt? Warum diese so radikale Parteinahme? Weil Jesus selbst das vollkommene Kind ist, das Kind Seines himmlischen Vaters. Darum sagt Jesus in Vers 18 nicht: “Ihre Engel sehen stets das Angesicht Gottes", nein, Er sagt: “... das Angesicht meines Vaters". “Meines Vaters!" - Christus will hier unmissverständlich zum Ausdruck bringen: Die Kinder gehören mir, sie sind, wie ich, Kinder meines Vaters.
Denn nach rabbinischer Auffassung können die Engel Gottes Angesicht nicht sehen. “Höchstens den allerobersten, den “Angesichtsengeln" ist das vergönnt" (Hennoch 40). Doch die (Schutz-) Engel der Kinder sehen das Angesicht Gottes: nicht nur Gottes, sondern des Vaters Jesu Christi! Es sind die größten, die mächtigsten, die “allerobersten", die herrlichsten Engel, die Gott der Vater den Kindern zuteilt, weil sie Seine geliebten Kinder sind, die schutzbedürftigen kleinen Brüder und Schwestern seines vielgeliebten Sohnes Jesu Christi.
Was für ein Geheimnis und Wunder ist um das Kind! Wie sind sie schön, wahr und wahrhaftig und taufrisch ihre Seelen! Sie leben noch am Ursprung. Kaum ein Hauch vom Geist dieser Welt hat sie ihrem Ursprung entfremdet. Was die Bibel von der Weisheit spricht, die in Jesus Christus Kind und Mensch geworden ist, können wir auch auf das Kind anwenden, das noch am Ursprung spielt: “Ich bin Seine Freude Tag für Tag und spiele vor Ihm allezeit." (vgl Spr 8,30).
Das weiß auch der heilige Starez Sosima in “Die Brüder Karamasow" von F. Dostojewskij, der die Leute ermahnt: “Liebt besonders die Kinder, denn auch sie sind sündlos wie Engel und leben, um uns zu rühren, um unsere Herzen zu läutern und als ein Hinweis für uns. Wehe dem, der einem Kinde etwas zu leide tut... Jeden Tag und jede Stunde, jede Minute beobachte dich und gib acht, daß dein Aussehen würdig sei. Da bist du beispielsweise an einem kleinen Kinde vorbeigekommen, du gingst erbost, mit einem häßlichen Wort auf den Lippen und zornerfüllter Seele an ihm vorüber, du hast das Kind vielleicht gar nicht bemerkt, aber das Kind hat dich gesehen, und dein unschönes, ruchloses Angesicht mag sich in seinem schutzlosen kleinen Herzen eingeprägt haben. Du weißt es nicht einmal, hast aber damit vielleicht schon eine böse Saat in sein Herz gestreut, und die wird am Ende aufgehen; und das alles nur, weil du dich in Gegenwart des Kindes nicht in acht genommen und weil du dich nicht zu umsichtiger, tätiger Liebe erzogen hast."
Gott allein weiß, wie wir Erwachsenen an Kindern schuldig geworden sind und es vielleicht noch werden! Hätte das Kind von Bethlehem diese Schuld nicht ans Kreuz getragen, wir wären fast ohne Hoffnung. Aber darum, und gerade deswegen!, haben wir allen Grund, die Hoffnung in die Zukunft nicht zu verlieren und voll Zuversicht in den Kindern und mit den Kindern die Zukunft zu gestalten. Und vielleicht sind es gerade die Schmerzen und Tränen der Kinder, die uns alle noch retten werden. Daran mußte ich denken, als ich diese Tagebuchaufzeichnung der Hl. Faustyna Kowalska las:
“Als ich (Sr. Faustyna) eines Tages für mein Vaterland bette, wurde meine Seele von einem großen Schmerz zerrissen, und ich sagte: ,Barmherziger Jesu, ich flehe Dich an, im Namen Deiner Heiligen, aber vor allem durch die Fürbitte Deiner liebsten Mutter, von der Du als Kind erzogen worden bist, segne mein Vaterland! Jesus, schau nicht auf unsere Sünden. Schau auf die Tränen der kleinen Kinder, schau wie sie hungern und frieren. Um dieser Unschuldigen willen gewähre mir die Gnaden, die ich für mein Vaterland erbitte.' Da sah ich Jesus mit Tränen in den Augen. Er sagte zu mir: ,Du siehst, Meine Tochter, wie mir diese Kinder leid tun. Wisse, daß sie die Welt tragen.'"
Wisse, daß sie die Welt tragen!
“Trockne, Jesuskind,
die Tränen der Kinder!
Du bist es,
göttliches Kind von Betlehem,
das uns rettet
und von der Sünde befreit.
Zieh ein in das Herz eines jeden Menschen
und jeder Familie.
Sei du unser Friede
und unsre Freude." (Johannes Paul II.)