VISION 20003/2006
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Wer hat die Evangelien geschrieben?

Artikel drucken Auseinandersetzung mit den Theorien der Spätdatierung der Schriften des Neuen Testaments (Von P. Alain Bandelier)

Wieder einmal schreiben die Medien die Geschichte Jesu um: im Bestseller “Sakrileg", in den Spekulationen rund um das “Judas-Evangelium"... Nicht viel anderes tun viele Exegeten, die das Neue Testament “historisch-kritisch" zerpflücken, weil es erst lang nach Jesu Tod verfaßt worden sei. Daß diese These unhaltbar ist, zeigt der folgende Beitrag.

Die Spezialisten sagen uns: Ob die Evangelien gleich oder erst lang nach den Ereignissen geschrieben wurden, was macht das schon aus? Wichtig sei, daß sie uns den Glauben der ersten christlichen Gemeinschaften vermitteln. Das stimmt - und es stimmt nicht. Das Wahre daran: Die Gültigkeit der Texte des Neuen Testaments hängt nicht vom Datum ihrer Abfassung ab, sondern vom Wert ihres Zeugnisses, das - vom Heiligen Geist inspiriert - von der Kirche beglaubigt ist.

Andererseits ist die Feststellung auch falsch: Die Autorität eines Textes ist nicht unabhängig von der Person des Autors, ob es sich nämlich um einen Apostel oder den Begleiter eines Apostels handelt. Aus dieser Sicht ist der Zeitpunkt der Entstehung der Schrift keineswegs bedeutendslos. Die Kirche hat immer gelehrt, daß die Offenbarung mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen ist. Die Quelle ihres Credos ist nicht der Glaube der ersten Gemeinschaften, sondern das Zeugnis der Apostel.

Dieser Punkt wird heute in weiten Kreisen infragegestellt. Beharrlich wird behauptet, das Neue Testament sei erst lange nach den Ereignissen verfaßt worden, es sei weniger eine Sammlung von Zeugnissen mit historischer Bedeutung als von literarischen Werken mit theologischem Gehalt.

Diese Behauptung ist durchaus nicht harmlos. Den Zeugen willkürlich vom Geschehen zu entfernen, das er bezeugen soll, bedeutet, das Band zu zerdehnen, das Christus mit dem Christentum verbindet. Da hat man dann auf der einen Seite einen ungreifbaren, nicht existierenden Jesus, ein Hirngespinst. Und auf der anderen Seite gibt es einen fabrizierten - um nicht zu sagen: erfundenen - Text, dem man unterstellt, Antworten auf die jeweils auftretenden Bedürfnisse (welche eigentlich?) der Gemeinden zu geben. Einen Text, der dauernd neu zu interpretieren, in die richtige Perspektive zu setzen, zu entmythologisieren sei - so die gängige Terminologie. Anders gesagt: Ein Text ohne Autorität - außer jener, die ich ihm zuteile.

Wie paradox! Was sollen da unsere bewegten und feierlichen Erklärungen über die Bedeutung der Bibel (seit dem berühmten “sola scriptura" Luthers), wenn diese nichts anderes als ein Spiegel der Gemeinschaften von gestern und heute ist?

Dabei leugne ich keineswegs, daß die Predigt und anschließend die Abfassung der Evangelien sich an Leute aus Fleisch und Blut wendet. Zwangsläufig spiegelt der Text etwas von den Lebensumständen und den Fragen der Adressaten. Wir haben aber, wie es im Prolog des dritten Evangeliums heißt, durch all das Zugang zum Zeugnis der Diener des Wortes, die ursprünglich selbst Augenzeugen waren.

Die Evangelien wurden in Gemeinschaften und für sie geschrieben, das stimmt. Aber sie wurden nicht von Gemeinschaften geschrieben, wie man heute üblicherweise sagt. Glauben Sie wirklich, daß die Gemeindemitglieder von Ephesus das vierte Evangelium, dieses Meisterwerk, verfaßt haben?

Die Autoren des Neuen Testaments sind Zeugen. Johannes betont: “Was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, das verkünden wir..." Und Petrus erklärt: “Wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt ... diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren." Und Lukas hält fest: “Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen..." Soll man da glauben, daß sie falsche Zeugen sind, “Lügenapostel", wie Paulus das ausdrückt?

Soll man da der Mode der Exegeten folgen, wenn sie jeden zweiten dieser Berichte irgendwem zusprechen, nur nicht dem Unterzeichner oder dem, den die Tradition als Autor nennt? Wären die ersten Hörer und Leser dieser Texte in Kenntnis ihrer wahren Autoren damit einverstanden gewesen, daß das Wort der Wahrheit von Anfang an auf einer Lüge beruht?

Schon im Neuen Testament wird die Bedeutung der apostolischen Tradition hervorgehoben (Luk 1, Jud 1,3). Wäre dem nicht so, würden wir seit 2000 Jahren nur menschliche Tradition, also genau genommen Windhauch, kolportieren...

Wann wurden die Evangelien verfaßt? Eine Leserin, ausgebildete Historikerin, schreibt mir diesbezüglich: “Die Evangelien sind keine Leben-Jesu-Beschreibungen im modernen Sinn des Wortes. Aber es wäre falsch zu sagen, sie enthielten keine Detailinformation. Im Gegenteil, zahlreich sind die Einzelheiten, die genau jenes Umfeld rekonstruieren, das im Falle einer späteren Redaktion in Vergessenheit geraten wäre. Es fehlen außerdem Anachronismen, was übrigens schwer zu erreichen ist."

Wie wahr ist das! Simon Petrus weinend im Hof des Hohen Priesters; Simon von Cyrene, Vater von Alexander und Rufus; Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes... Das erfindet man nicht. Da muß man dabei gewesen sein!

Auf derselben Linie: Unleugbar ist der semitische Hintergrund der Evangelientexte, die in Griechisch vorliegen. Der Pharisäer, der erklärt, seine Güter seien “korban", um seinen Eltern nicht helfen zu müssen, die Worte Christi selbst: Abba; Talitha kum; Eloi, Eloi sabakthani; Effata... Wer will uns da einreden, daß dies alles Produkte griechischer Gemeinschaften sind, von Gemeinschaften, die 50 Jahre später geschrieben und hunderte Kilometer von Jerusalem entfernt gelebt haben?

Paulus ist der erste Schreiber (Mitte des 1. Jahrhunderts), Johannes der letzte (Ende des 1. Jahrhunderts). Dazwischen die synoptischen Evangelien, vor dem Jahr 70. Dies kann auf zweierlei Weisen eindeutig festgelegt werden. Ein erster zeitlicher Rahmen ergibt sich aus der Apostelgeschichte. Deren letzte Kapitel erzählen von der Verhaftung des Paulus, seiner Inhaftierung in Cäsaräa, sein Rekurs an den Kaiser, seine bewegte Überfahrt nach Italien, seinen zweijährigen Aufenthalt in Rom. All das wird von einem Augenzeugen erzählt, kurz nach den Ereignissen, voller präziser Details.

Klar, daß die Apostelgeschichte vor dem Tod von Paulus (64 oder 67) verfaßt worden ist. Sonst hätte der Bericht dessen Martyrium als Höhepunkt am Ende enthalten. Nun ist aber die Apostelgeschichte die Fortsetzung eines “ersten Buches" (Apg 1,1): des Lukas-Evangeliums. Dieses ist also vorher geschrieben worden, wohl während der Gefangenschaft des Paulus in Rom (61-63) oder sogar in Cäsaräa (58-60).

Parallel dazu verfaßt Matthäus sein Evangelium. Tatsächlich weisen diese beiden Evangelien - die auf gemeinsame Quellen zurückgreifen - keinen gegenseitigen Einfluß auf. Das heißt, daß sie zeitgleich entstanden sind. Das erste Evangelium sollte man also in die Zeit zwischen der Steinigung des Jakobus, die zum Bruch zwischen den Juden und den Jüngern führte (62) und - Irenäus zufolge - dem Martyrium des Petrus (64) ansiedeln.

Ein anderer sicherer Bezugspunkt ist die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus im Jahr 70. Die Autoren des Neuen Testaments sprechen vom Tempel wie von einer noch vorhandenen Gegebenheit. Für den Hebräerbrief, dessen Datierung für weitere Schriften bedeutsam ist, übt der Hohepriester noch seine Funktion aus und die Opfer werden “Tag für Tag" (Hebr 10,11) dargebracht. Diese Zerstörung wird für die Welt der Juden zur wahren Katastrophe.

Die Stellen, in denen Jesus sie bei den Synpotikern ankündigt, sind keineswegs eine im nachhinein verfaßte Prophezeiung, wie viele vermuten. Hätte das Ereignis schon stattgefunden, so hätte es mehr Spuren hinterlassen und die Texte würden mehr Details des Ereignisses enthalten. Das Markus-Evangelium dürfte etwas nach Lukas und Matthäus aufgetaucht sein, wohl nach der Verfolgung durch Nero.

Noch zwei Worte über die historische Bedeutung des Neuen Testaments. Es gibt einige wenig bekannte, aber bedeutsame Anhaltspunkte: Das 15. Jahr des Tiberius (Lk 3,1) stimmt mit den 46 Jahren des Tempelbaus (Joh 2,20) überein: die Jahre 27-28. Stephanus wird gesteinigt, nicht gekreuzigt: Pilatus war im Jahr 36 nach Rom zurückgerufen worden. Paulus erscheint vor Gallio (Apg 18,12): Dieser war ein Jahr lang Prokonsul von Achaia: 51-52.

Vor allem aber sollte man die Stimmigkeit dieser Sammlung von 27 Büchern und Schriften würdigen. Mit ihrer großen Freiheit in Ton und Inspiration, singen sie ein vielstimmiges Lied auf Christus, “derselbe gestern, heute und in Ewigkeit" (Hebr 13,8).

Auszüge aus Famille Chrétienne Nr 1267 u. 1268

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