Wie wählt man das Leben? Wie tut man das? Als ich darüber nachdachte, kam mir in den Sinn, daß der große Abfall vom Christentum, den es im Westen in den letzten 100 Jahren gegeben hat, gerade im Namen der Option für das Leben geschehen ist. Es ist gesagt worden - ich denke dabei an Nietzsche, aber auch an viele andere -, daß das Christentum eine Option gegen das Leben sei. Mit dem Kreuz, mit all den Geboten, mit allem “Nein", das es auferlegt, verschließt es uns den Zugang zum Leben.
Aber wir wollen das Leben haben, und wir wählen das Leben, wir entscheiden uns endlich für das Leben, indem wir uns vom Kreuz befreien und von all diesen Geboten und all diesem Nein. Wir wollen das Leben in Fülle haben, nichts anderes als das Leben.
Hier kommt uns sogleich das Wort des Evangeliums in den Sinn: “Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten" (Lk 9,24). Das ist das Paradoxon, das wir bei der Option für das Leben in erster Linie berücksichtigen müssen.
Nur wenn wir das Leben nicht für uns selbst in Anspruch nehmen, sondern das Leben hingeben, nur wenn wir das Leben nicht haben und an uns reißen wollen, sondern es hingeben, können wir es finden. Das ist letztendlich der Sinn des Kreuzes: das Leben nicht für sich haben zu wollen, sondern es hinzugeben. (...)
(Im Buch) Deuteronomium lautet die Antwort Gottes: “Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben" (30,16). Auf den ersten Blick gefällt uns das nicht, aber es ist der Weg: die Option für das Leben und die Option für Gott sind identisch.
Der Herr sagt es im Evangelium nach Johannes: “Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen" (Joh 17,3). Das menschliche Leben ist eine Beziehung. Nur in der Beziehung, nicht in uns selbst verschlossen, können wir das Leben haben.
Und die grundlegende Beziehung ist die Beziehung zum Schöpfer, sonst sind die anderen Beziehungen schwach. Also Gott wählen - das ist wesentlich.
Eine Welt, in der Gott abwesend ist, eine Welt, die Gott vergessen hat, verliert das Leben und versinkt in eine Kultur des Todes. Das Leben wählen, sich für das Leben entscheiden bedeutet vor allem, die Option für Gott und die Beziehung zu Gott zu wählen.
Aber sofort erhebt sich die Frage: zu welchem Gott? Auch hier hilft uns das Evangelium: zu dem Gott, der uns Sein Antlitz in Christus gezeigt hat, zu dem Gott, der am Kreuz den Haß besiegt hat, also in der Liebe bis zur Vollendung. Wenn wir diesen Gott wählen, wählen wir das Leben.
Papst Johannes Paul II. hat uns die große Enzyklika Evangelium vitae geschenkt. Sie ist gleichsam ein Bild der Probleme der heutigen Kultur, der Hoffnungen und der Gefahren. Aus ihr wird ersichtlich, daß eine Gesellschaft, die Gott vergißt, die Gott ausschließt, gerade weil sie das Leben haben will, in eine Kultur des Todes versinkt. Weil man das Leben haben will, sagt man “nein" zum Kind, denn es nimmt mir einen Teil meines Lebens, sagt man “nein" zur Zukunft, um die ganze Gegenwart zu haben, sagt man “nein" zum werdenden und zum leidenden Leben, das dem Tod entgegengeht.
Diese scheinbare Kultur des Lebens wird zur Antikultur des Todes, wo Gott abwesend ist, wo der Gott abwesend ist, der nicht den Haß anordnet, sondern den Haß besiegt. Hier entscheiden wir uns wirklich für das Leben. Alles hängt also miteinander zusammen: die tiefste Option für den gekreuzigten Christus mit der vollkommensten Option für das Leben vom ersten bis zum letzten Augenblick.
Auszug aus der Ansprache am 2.3.06 vor den Priesern der Diözese Rom.