Manchmal kann man einerseits den Eindruck gewinnen, daß in der offiziellen Ökumene ein gewisser Relativismus herrscht, eine Art von Billigökumene.
Unter - teilweise ausdrücklicher - Ausblendung der Frage nach der Wahrheit wird eine Annäherung der getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften betrieben. Aber wie kann man sich einigen, ohne daß das Wesen der Einheit bekannt ist? Wie soll man einen Weg gehen, wenn man das Ziel nicht kennt?
Manchmal kann man hören, das Ziel sei “versöhnte Vielfalt" (oder so ähnlich). Ist es das, was Jesus wollte, wenn er darum betete, daß alle “eins seien" (Joh 17, 11)? Das Ziel ist: ein Hirt und eine Herde. Das bedeutet natürlich auch äußere, sichtbare Einheit. Wir müssen daher auf der Hut vor einer Schwindelökumene des kleinsten gemeinsamen Nenners sein. Sie blendet tendentiell die Fülle der geoffenbarten Wahrheit aus, schmuggelt aber andererseits Ideologien ein, etwa auf dem Gebiet sozialer Fragen, die dem katholischen (und überhaupt christlichen) Selbstverständnis widersprechen. (So manches “Ökumenische Sozialwort" ist daher sehr kritisch zu lesen.) Aber wie können und sollen sich die Christen um Einheit bemühen, ohne in solche Fallen zu tappen? Man muß bei den Wurzeln des Glaubens beginnen:
Am Anspruch der konkreten, rechtlich verfaßten römischen Kirche, die von Jesus gewollte Kirche zu sein, entzündet sich regelmäßig die Diskussion. Im Neuen Testament ist tatsächlich die konkrete römisch-katholische Kirche angelegt, wie etwa der berühmte englische Konvertit Robert Hugh Benson, dessen Herr der Welt (1907) in dieser Zeitschrift schon vorgestellt wurde, in seinem schönen Büchlein The Religion of the Plain Man (1906) ausführt (und mit ihm viele andere). Das Neue Testament ist selbst schon eine Schrift der Kirche. Hätte Jesus nicht wirklich das Petrusamt als sichtbare, äußere Vollmacht gem. Mt 16, 18 gestiftet, dann hätte es nie ein Petrusamt gegeben, somit auch keinen Papst. Den gibt es aber immer noch (und er bewegt mehr Menschen als je zuvor).
Ähnliches gilt auch für Eucharistie, Sakramente, sakrale Struktur der Kirche, Marienverehrung, Heiligenverehrung u. a. An diesen Konkretisierungen des Wirkens Jesu bis heute kann die Ökumene nicht vorbeigehen. An der Frage der sichtbaren Kirche, gegründet auf dem Felsen Petrus, kommen wir nicht vorbei.
Aber das ist nur die eine, mehr objektive Seite. Denn gerade in den protestantischen Freikirchen finden sich viele vorbildliche und glühende Gläubige, von denen wir Katholiken sehr viel lernen können. Was den Einsatz für das Evangelium, das Gottvertrauen und die Kenntnis der Hl. Schrift betrifft, sind uns freikirchliche Christen oft weit voraus.
Einen ähnlichen Eifer finden wir auch bei den von Rom getrennten Kirchen des Orients: Die Kopten und die Armenier etwa haben bis heute eine große Anzahl an Heiligen, an Bekennern, Gelehrten und spirituellen Menschen hervorgebracht, ebenso die byzantinischen Kirchen. Aufgrund dieser Tatsachen und aufgrund von Mk 9, 38ff und Joh 10, 16 wird man sagen müssen, daß Elemente der Kirche Christi auch außerhalb der sichtbaren, juristisch faßbaren Einheit bestehen.
Dort setzt eine wahre Ökumene ein, wie wir in Anlehnung an das bedeutende Werk des russisch-orthodoxen Philosophen Solowjew Kurze Erzählung vom Antichrist (1900) für unsere Zeit weiterdenken können: Mögen evangelikale Christen auch manchmal betont antikatholisch sein, so ist dennoch die Glut ihres Glaubens an Christus als vorbildlich zu würdigen. Mögen uns orthodoxe und altorientalische Christen auch mit einer gewissen nationalen Verengung ihres Wirkens befremden, was nach 1400 Jahren islamischer Unterjochung und Behinderung nicht unverständlich ist, so können wir in einer satten Wohlstandsgesellschaft von ihrem Glaubenszeugnis als Märtyrerkirchen doch viel profitieren.
Auch wissen die Ostkirchen, was Liturgie ist und können uns so helfen, unsere liturgischen Verwüstungen der letzten 40 Jahre zu überwinden. Hier kann eine wahre Ökumene ansetzen, die nicht auf eine schwindsüchtige “versöhnte Vielfalt in Verschiedenheit" abzielt, die sich nicht mit sozialistisch inspirierten politischen Verlautbarungen auf Abwege begibt oder in kindischem Trotz bewußt gegen die Anordnungen des Papstes, des “Vaters", verstoßt. Es ist die Ökumene der wahrhaft Gläubigen, der Bibelleser und Bibelkenner, der Beter und Zeugen, derer, die nicht lau sind (Offb 3, 16).
Sie kommt nicht zustande, indem die Christen die Frage nach der Wahrheit der Kirche und noch bestehende Grenzen wegschieben, sondern indem sie sich für die Fülle des ganzen geoffenbarten Glaubens öffnen und in Gebet und Liebe alles gemeinsam tun, was möglich ist. Dann wird der Herr selbst auch die sichtbare Einheit wiederherstellen - und wenn es erst gegen Ende der Geschichte sein sollte.
Wolfram Schrems