Barmherzigkeit. Erbarmen. Eine Sehnsucht sowohl nach Gott wie nach dem Menschen. Zum ersten Mal wirklich darauf aufmerksam wurde ich durch Christine Lavant. Schon als Student war ich von den Gedichten dieser begnadeten Kärntner Lyrikerin begeistert. So fuhr ich damals auf gut Glück zu ihr in die Klinik nach Klagenfurt. Dort hatte ihr der verantwortliche Nervenarzt, ein Freund, kostenlos ein Zimmer zur Verfügung gestellt. So konnte die hypersensible Patientin sorgenlos den Winter verbringen.
Auf die Frage, was ihrer gequälten Seele so gewaltige Kraft im Kampf des Guten gegen das Böse verleihe, gab sie zur Antwort: “Das Erbarmen." Zwar konnte ich damit nichts anfangen, behielt aber die Aussage im Gedächtnis.
Jahre später stieß ich auf die eindrucksvollen Aussagen einer mir damals unbekannten Sr. Faustyna aus Krakau. In einer Vision hatte Jesus zu ihr gesagt: “Bevor ich als der gerechte Richter komme, komme ich als König der Barmherzigkeit." Ich fühlte bei diesen Worten Ernsthaftigkeit und Trost. Die Aussage selbst schnitt ich aus der Zeitung aus und heftete sie an die Innentüre meines Kleiderkastens. Jedesmal wenn ich den Inhalt bewußt aufnahm, fragte ich mich: “Und was ist das eigentlich, die Barmherzigkeit? Das zu beantworten war unerwartet schwierig."
Einmal aber durfte ich es in einer Extremsituation erleben: Da hatte man mich gebeten, für ein eintägiges Seminar die Moderation zu übernehmen. Zwölf Personen, die Bundesländer-Verantwortlichen einer großen Organisation kamen in Wien zusammen. Anliegen des Treffens war das Erreichen von Einigkeit in bestimmten Fragen. Der Chef der Organisation hatte mich vorher ausführlichst manipuliert, damit nur ja das herauskomme, was er wollte. Dementsprechend hatte ich das Programm vorbereitet.
Doch es kam ganz anders: Die Teilnehmer lehnten meinen Vorschlag für die Tagesordnung ab. In der Einladung sei nichts von all dem gestanden. Im Gegenteil. Man erwarte das Behandeln völlig anderer Themen. Darauf aber war ich nicht vorbereitet. Für mich begann die Welt zu wanken. Blamage war vorprogrammiert. Was konnte ich mir schon in einer knappen Viertelstunde überlegen? Noch dazu für so kompetente Entscheidungsträger!
Ich bin also in die Kapelle gegangen und habe mein Herz ausgeschüttet: “Barmherzigkeit, Herr, Barmherzigkeit!" Zitternd kniete ich vor dem Tabernakel, mein “Todesurteil" vor Augen.
Die Glocke läutete. Das Seminar begann. Ich weiß nicht mehr, womit ich angefangen, was ich geredet habe. Es kam einfach aus mir heraus. Eines ergab das andere. Alles lief fast von selbst. Am Schluß sagte der Hofrat aus Bregenz: “Heute früh dachte ich mir, das wird eine vergeudete Zeit. Der Moderator ist eine Fehlbesetzung. Jetzt aber muß ich gestehen: Sie waren großartig. Ich habe völlig neue Denkansätze gewonnen, bin sehr froh, daß ich dagewesen bin."
Nie zuvor hatte ich erlebt, so auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen zu sein wie damals bei dem Seminar. Dieses Erlebnis prägte sich - als Dankbarkeit - tief in meine Seele ein. Anscheinend sind solche empfindungsbetonten Vorkommnisse eine notwendige Voraussetzung dafür, Barmherzigkeit zu verstehen. Erst sie schaffen einen erweiterten Zugang zu der Erkenntnis, daß es Gott sein muß, der Regie führt.
Und dann keimt eine Erfahrung auf: Die Barmherzigkeit könnte eine Endstation sein. Sie ist end-gültig dort, wo einer widersagt: dem Mißtrauen und der Angst, der Verzweiflung und der Rache. Die Barmherzigkeit macht Schluß mit all dem Negativen. Körperlicher und seelischer Ballast wird abgeworfen. Es zeichnet sich eine Zukunft in totaler "Freiheit" ab. Das Vertrauen wird immer stärker. Mut und frohe Gewißheit begrüßen jeden neuen Tag. Das Ahnen wird zum Verlangen nach mehr. Bis zum Herbeisehnen des Todes kann diese Sehnsucht gehen. Denn hinter diesem leuchtet bereits ein Licht in der Finsternis.
Worte Jesu an Sr. Faustyna: “Verkünde, daß Barmherzigkeit die größte Eigenschaft Gottes ist." Und: “Meine Barmherzigkeit ist so groß, daß sie in der ganzen Ewigkeit durch keinen Verstand, weder von Menschen noch von Engeln, ergründet werden kann." Knieend antworte ich: “Jesus, ich vertraue auf Dich!"
Josef Messner