Vielen wird dieser Papst noch in lebendiger Erinnerung sein: freundlich lächelnd und bescheiden, ein Bischof, der von Christen und Nichtchristen geschätzt wurde, der, sehr zum Erstaunen der Welt, ein völlig neues Verständnis seines hohen Amtes verkörperte.
Angelo Roncalli wurde am 25. Nov. 1881 in Sotto il Monte bei Bergamo geboren, vorwiegend in Rom ausgebildet und 1904 zum Priester geweiht; danach wurde er Sekretär des Bischofs von Bergamo und war im 1. Weltkrieg Sanitäter und Feldgeistlicher. Hochgeschätzt (auch als Historiker) von Pius XI., wurde er 1925 als apostolischer Legat nach Bulgarien entsandt, wo er trotz großer Schwierigkeiten versuchte, gute Beziehungen zur Orthodoxie aufzubauen, was anfangs in Rom mit wenig Begeisterung aufgenommen wurde. Seinen eigenen Aufzeichnungen zufolge war er in heiklen Situationen mit sich unzufrieden, weil er “zuviel rede", und er erkannte, daß er “die Zeit gewissenhafter verwalten" müsse. 1935 bis 1944 war er päpstlicher Gesandter in der Türkei und in Griechenland - alles in allem harte Lernjahre.
Ab 1945 war er Nuntius in Paris. Roncalli, dessen diplomatische Fähigkeiten in Vatikankreisen bisweilen recht umstritten waren, war in seiner natürlichen Einfachheit und direkten Offenheit in der schwierigen Situation nach dem Krieg unerwartet erfolgreich. “Er war kein Mensch, der die Dinge kompliziert machte." Er war also doch ein guter Diplomat, wenn auch ein ungewöhnlicher. So konnte er z.B. für 480 deutsche Theologen in einem Gefangenenlager Studienkurse, das “Stacheldrahtseminar" bei Chartres, einrichten. Bei einem Besuch aß er mit den Gefangenen aus dem Blechnapf und riet ihnen nur, “sie sollten schauen, daß sie was zu essen kriegen, daß sie viel schlafen und bald nach Hause kommen". Das war seine Art, anstelle großer Sprüche Menschlichkeit und Hoffnung in einer schweren Zeit zu bringen.
1953 wurde er Patriarch von Venedig. Hier konnte er wieder Seelsorger sein, auch hier hatte er keine Berührungsscheu mit Nichtkatholiken und setzte damit für die damalige Zeit erstaunliche Zeichen.
Am 28. Oktober 1958 wurde er zum Papst gewählt - als “Übergangspapst" - und als solcher schrieb er Geschichte. Berühmt geworden sind die Enzykliken “Mater et Magistra", vor allem aber “Pacem in terris", die, an “alle Menschen guten Willens" gerichtet, erstaunlicherweise sogar von der nichtchristlichen Welt mit größtem Interesse aufgenommen und bejaht wurde.
Er “fühlte sich besonders den armen und einfachen Volksschichten und der Arbeiterklasse verbunden" und begann eine durchaus neue “Ostpolitik", die auf seinen eigenen Erfahrungen in Bulgarien und in der Türkei gründete: “Mauern helfen nicht weiter, man muß sie abbauen." Als Papst führte er für die sehr schlecht bezahlten Angestellten im Vatikan Gehaltsreformen durch (sensationell!), bei den dienstlichen Audienzen mit seinen Mitarbeitern gab es immer auch das persönliche Gespräch: “Man verließ eine Audienz bei Papst Johannes immer mit einer großen Freude im Herzen". Selbst Menschen, die mit der Kirche nicht verbunden waren, bezeugten, daß er “fast zu ehrlich, zu gut, zu sauber, geradezu einfältig - auch als Papst - war." Er hatte die Gabe, “das Wesentliche des Menschseins in ein paar schlichte Charakterzüge zu fassen", verwendete keine verschrobenen Vokabeln, sondern beeindruckte durch seine Schlichtheit, liebte jedoch keine Ausflüchte.
Und dann berief er am 25. Jänner 1959 das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) ein.
Der Gedanke an eine Fortsetzung des unvollendeten 1. Vaticanum (1869/70) war nicht ganz neu, schon Pius XII. hatte daran gedacht, aber erst Johannes sah die Zeit reif dafür. Die Idee setzte sich relativ schnell durch - und noch viel schneller wurde sie mißverstanden, z. B. durch die Meinung, daß auch Delegierte anderer christlicher Kirchen stimmberechtigt daran teilnehmen würden, um die christliche Einheit “zu beschließen".
Aber die Weisung des Papstes zu Konzilsbeginn war ganz klar: “Vornehmlichste Aufgabe dieses Konzils ist es, das heilige Erbe der christlichen Lehre zu bewahren und in wirksamer Weise zu verkünden." “Damit diese Lehre die vielfältigen Bereiche des menschlichen Wirkens beim einzelnen, bei den Familien und im gesellschaftlichen Zusammenleben erreicht, darf sich die Kirche vor allem nicht von dem Schatz der Wahrheit trennen, den sie von den Vätern ererbt hat. Gleichzeitig jedoch muß sie auch der Gegenwart Rechnung tragen und auf die gewandelte Lage sowie die neuen Lebensformen, die in die moderne Welt Eingang gefunden und dem katholischen Apostolat neue Wege geöffnet haben, eine Antwort geben." “Das 21. Ökumenische Konzil ... will die Lehre rein und unversehrt weitergeben, ohne sie abzuschwächen oder zu entstellen ..." “Man muß die Substanz ... des Glaubensschatzes von der Formulierung ihrer sprachlichen Einkleidung unterscheiden." Dieses “Aggiornamento", (das “Sich der heutigen Zeit Stellen"), wurde jedoch mißverstanden und häufig nach Gutdünken ausgelegt - im Gegensatz zur Weisung.
Papst Johannes war Historiker; als solcher wußte er, daß seine Initiative zum Konzil zwar mutig und visionär war, gleichzeitig jedoch überschießende Reaktionen auslösen würde. Aber er vertraute darauf, daß Gott, aufbauend auf menschlichen Initiativen, seine eigene Methodik hat.
1961 kam die Welt in eine der gefährlichsten Situationen der Neuzeit: als die Sowjetunion Kuba als Raketenbasis ausbaute, sahen die USA sich bedroht. Präsident Kennedy verlangte 1962 den Abbau der Raketen und verhängte eine Seeblockade. Die beiden Mächtigsten der Welt, Kennedy und Chruschtschow, hatten sich in einer Sackgasse verfahren, keiner schien ohne Gesichtsverlust zurückweichen zu können, ein Atomkrieg schien unmittelbar bevorzustehen. Papst Johannes hatte die Tragweite der drohenden Katastrophe schon früher als andere erkannt - und handelte: nach stundenlangem Ringen im Gebet um den Text veröffentlichte er einen Friedensappell an die Großmächte im Namen der gesamten Menschheit. Damit gab er beiden die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust (was für Politiker, wie's scheint, immer das Wichtigste ist) aus der verfahrenen Situation herauszukommen, was dann auch geschah.
Interessanterweise hatte Chruschtschow 1961, zum 80. Geburtstag von Papst Johannes, eine Glückwunschbotschaft gesandt, die mit großer Freude aufgenommen worden war. Chruschtschow selbst soll bemerkt haben, daß er sich mit Johannes “in gewissem Sinn" verwandt fühle: beide kämen aus ärmsten Verhältnissen, beide seien im engen Kontakt mit der “Scholle" aufgewachsen, “und wir beide haben Sinn für Humor".
In gewisser Weise war es die von Johannes begründete, nicht immer mit ungeteilter Zustimmung gesehene neue Form der “Ostpolitik", die am 7. März 1963 zu einer - von den Russen erbetenen - Privataudienz für Chruschtschows Tochter Rada und Schwiegersohn Adschubej führte. Beide waren als Journalisten zuerst in den offiziellen Rahmen einer Pressenkonferenz eingefügt, hatten dann aber ein längeres, für die beiden tief berührendes, privates Gespräch mit Johannes XXIII. “Meine Umgebung ist nicht sehr davon begeistert, daß ich jemanden aus Sowjetrußland empfangen habe. Aber ich habe mich in meinem Leben daran gewöhnt, meine Tür allen zu öffnen, die anklopfen", sagte Papa Johannes noch 25 Tage vor seinem Tod.
In Papa Roncallis Leben hatte immer der seelsorgliche Aspekt Vorrang; daher sollte auch das Konzil als Klärung der Einheit der Katholiken untereinander dienen: Voraussetzung für den Beginn eines Dialoges, der zur Einheit aller Christen beitragen sollte, um dadurch ein Zeugnis für alle Menschen zu werden, in einer Welt, die immer verworrener zu werden droht. Für ihn war dazu die metanóia, die Umkehr des eigenen Denkens, unumgängliche Notwendigkeit.
Papa Johannes war ein wahrer Seelenhirt, bei dessen Tod die Menschen weinten - die Christen um einen großen Papst, die Atheisten, weil die Welt einen großen Menschen verloren hatte, einen Menschen, wie er der Welt in einem hohen Amt nur äußerst selten geschenkt wird.