Nicht perfektes Verhalten ihrer Glieder ist der Kirche verheißen, sondern ihr Überleben und ihr Stehen in der Wahrheit in allen Zeiten. Im folgenden ein Blick auf dieses Wunder aus der Warte eines Kirchenhistorikers.
Eigentlicher Grund unseres Vertrauens kann niemals eine glänzende geistig-sittlich-religiöse Erscheinungsform der Kirche in dieser Welt sein: Die gab es und gibt es zwar stets und überall - aber es gibt ebenso stets und überall das viel auffallendere Gegenteil davon.
So muß schon alle Urkirchenromantik, die in der Kirche der ersten christlichen Generationen eitel Heiligkeit und Größe zu erkennen meint, an den harten Tatsachen scheitern: das christliche Ehepaar Ananias und Sapphira hat versucht, den Apostel Petrus zu betrügen; in der Paulusgemeinde in Korinth gab es einen Fall von Inzest und Opposition gegen den Apostel; in Philippi hatten die - wie man heute sagen würde - engagierten Mitarbeiterinnen des hl. Paulus, Evodia und Syntyche, solchen Krach miteinander, daß Paulus sie ernstlich ermahnen mußte.
Ja, Paulus selbst trennte sich auf einer Reise von Markus und Barnabas wegen offenbar nicht zu bereinigender Meinungsverschiedenheiten. Schließlich gab es schon um das Jahr 70 - so nach neuesten Forschungen - in Korinth einen Aufstand gegen die Presbyter, sodaß der Bischof von Rom dort energisch eingreifen mußte.
Die Kirche hat also nie jene makellos leuchtende Erscheinung gehabt, die sie haben sollte. So verwundert es auch nicht, daß solche, die besonders fromm zu sein glaubten, daran immer wieder Anstoß genommen und ihre eigene “Kirche der Tadellosen" gegründet haben. Demgegenüber hat sich die Kirche selbst immer als große Realistin erwiesen, die immer und überall auch mit dem Versagen ihrer Glieder gerechnet hat und rechnet. Nicht umsonst hat der Herr Jesus selbst, der ja das Menschenherz in seinen Tiefen erforscht und kennt, das Sakrament der Sündenvergebung eingesetzt.
Man kann auch nicht sagen, daß die Hirten und die Glieder der Kirche immer und überall auf die Herausforderungen der Geschichte richtig reagiert haben. Dabei ist, im Gegenteil, mancher im nachhinein offenkundige Fehler begangen worden. War es denn etwa nicht verhängnisvoll, daß Papst Clemens V. sich von den Forderungen des französischen Königs Philipp einschüchtern ließ und den im ganzen gewiß unschuldigen Templerorden dem großenteils blutigen Untergang preisgab? Ganze Episkopate - heute würde man von Bischofskonferenzen sprechen - verfielen während der arianischen Krise des 4. und 5. Jahrhunderts der Irrlehre. Im 16. Jahrhundert folgten die Bischöfe Englands mit Ausnahme des hl. John Fisher aus Schwäche und Feigheit König Heinrich VIII. in den Abfall von Papst und Kirche, und ähnlich stand der französische Episkopat im Konflikt um die Freiheit der Kirche vom Staat auf seiten Ludwigs XIV. gegen den Papst. Fast zwei Jahrhunderte begünstigten die französischen Bischöfe die Irrlehre des Jansenismus. Der Ausnahmen waren nicht viele. (...)
All das füllt wahrlich keine Ruhmesblätter in den Annalen der Kirche. Wir können unser Vertrauen also letzten Endes auch nicht auf die Weisheit und Kraft der Hirten setzen.
Der Kirche ist aber weder Tadellosigkeit noch Tüchtigkeit ihrer Hirten und ihrer Gläubigen verheißen. Was ihr gottmenschlicher Stifter Jesus Christus jedoch garantiert hat, ist ihr unerschütterlicher Bestand und ihr unerschütterliches Feststehen in der Wahrheit bis zu Seiner Wiederkunft am Ende der Zeit.
Das bedeutet, daß die Kirche, wenn immer sie in letztverbindlicher Form spricht, niemals einen Glaubensirrtum verkünden kann, daß ihre Sakramente, sofern sie nur der Weisung der Kirche entsprechend gespendet werden, immer die ihnen eigene Gnadenwirkung hervorbringen, und daß ihre hierarchisch-sakramentale Ämterstruktur von Primat, Episkopat und Priestertum unversehrt erhalten bleibt.
Eben dadurch aber ist die Garantie gegeben, daß die Gnaden der Erlösung den Menschen aller Generationen zugänglich bleiben, bis der Herr wiederkommt.
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Die bloße Existenz der Kirche im Jahre 2007 ist (...) schon ein unwiderlegbarer Beweis für ihre Dauerhaftigkeit. In seiner ganzen Überzeugungskraft zeigt sich dieser jedoch, wenn wir rückschauend überblicken, unter welchen geschichtlichen Bedingungen sich diese Dauerhaftigkeit der Kirche bisher hat bewähren müssen. Dabei stellt sich heraus, daß schon die Anfänge der Kirche von inneren Gegensätzen ebenso wie von äußeren Verfolgungen belastet waren, die die glaubensmäßige wie institutionelle Loslösung von der Synagoge mit sich brachte. (...)
Die Glaubenslehre betreffende Konflikte wurden durch die Anerkennung des Christentums seit Konstantin dem Großen keineswegs beendet, sondern verschärft, wie die Jahrzehnte dauernde arianische Krise zeigt. (...) Die Spätantike war auch von anderen immer wieder aufbrechenden Glaubensirrtümern gekennzeichnet - man denke nur an den Monophysitismus, den Montheletismus, den Donatismus und manch andere Häresie.
Diese Geschichte häretischer Bestreitung und damit natürlich auch Bedrohung des genuin christlichen, katholischen Glaubens hat seither - von kurzen Unterbrechungen abgesehen - beständig neue Fortsetzungen erfahren, die schließlich in der großen Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts ihren bislang nicht wieder erreichten Höhepunkt erlebte. Gerade in den Ländern deutscher Zunge waren um 1530 nahezu vier Fünftel der Bevölkerung zu Luther und den übrigen Neuerern abgefallen, und der verbliebene Rest schrie “Tod dem Papst!"
England, Schottland, Skandinavien, Teile Polens, Ungarns und nicht geringe Teile Frankreichs trennten sich von der Kirche. Im wesentlichen verblieben Italien und Spanien, Bayern und mit Mühe die von Bayern politisch bestimmten Fürstbistümer Köln und Münster treu.
Demgegenüber haben politische Gewaltmaßnahmen zur Unterdrückung der Kirche wie etwa durch die Französische Revolution und die atheistischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts zwar große Blutopfer gekostet, den Bestand der Kirche aber weit weniger zu gefährden vermocht als die in ihrem Inneren wirksamen Kräfte des Irrtums.
Wie dem auch immer sei: Die Kirche hat die in ihr wie um sie tobenden Stürme von 2000 Jahren überstanden. Nicht immer strahlend, nicht triumphal, aber ungebrochen. Da und dort leckgeschlagen, manchmal mit einem zerbrochenen Mast und zerfetztem Segel - untergegangen ist das Schifflein Petri nicht. Und wenn dies bisher so gewesen ist, wird es - selbst nach bloßem menschlichen Ermessen - auch so bleiben.
Man betrachte aber nicht nur das oft mühsame Überdauern der Kirche in den Stürmen der Geschichte, sondern auch die großen geistigen, die kulturellen und sittlichen Werte, die sie der Menschheit vermittelt hat. Es ist unbestreitbar und unbestritten, daß all das, was wir heute als unser abendländisches Kulturerbe betrachten, angefangen von der Kunst bis hin zur Wissenschaft, selbst der Technik, auf dem Mutterboden der Kirche gewachsen ist. Jene Institution, die den wissenschaftlichen Fortschritt in all den Jahrhunderten angeführt hat, die Universität, ist eine legitime Tochter der Kirche.
Reden wir gar nicht erst von der Kunst in allen ihren Zweigen: Wo haben die Künste bis zu der alles infrage stellenden Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre eine Heimat gefunden, wenn nicht in der Kirche?
Vor allem aber ist jener mittlerweile natürlich längst säkularisierte Respekt vor der Persönlichkeit und Freiheit des einzelnen, der sich aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner Berufung zum Heil in Christus ergibt, das heute kaum mehr als solches erkannte Erbe einer aus dem Geist der Kirche lebenden Vergangenheit. Etwas von dem gegenüber allen vor- und außerchristlichen Kulturen - sieht man einmal vom Judentum ab - grundsätzlich Neues, als dessen Herold die Kirche von Anfang an aufgetreten ist, sind Mitleid, Nächstenliebe, Feindesliebe...
Aus Walter Brandmüller, Licht und Schatten, Sankt Ulrich Verlag, 1. Aufl. 2007. Siehe auch Buch-Besprechung in dieser Ausgabe.
Der Autor ist Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften.