Bilanz eines langen Lebens in der Kirche: Erfahrung der Geborgenheit in der Vorkriegs- und Nazizeit, des Einsatzes für Hilfsbedürftige während eines Großteils ihres Lebens, aber auch der Mißgunst und Verleumdung...
Als Kind erlebte ich die Kirche nur schön und wunderbar. Freilich verstand ich unter Kirche in erster Linie das Gotteshaus. In diesem Haus aber war eine Weihe, die Andacht und Ehrfurcht vermittelte. Wir waren arm wie viele andere auch. In der Kirche aber gab es Feste, die uns aus dem Alltag emporhoben. Die Kirche war in unserem Leben verwurzelt, nichts konnte sie infrage stellen, genauso wenig hätte es eine Frage sein können, meine Eltern wären nicht meine Eltern. Kirche und unsere Leben waren ein Ganzes.
Es war für mich so schön, das Kirchenjahr zu erleben, den Advent mit der Rorate um sechs Uhr früh, wenn die Kirche voll war und die Luft voll Feierlichkeit. Und dann erst das Weihnachtsfest. Es war mit tiefer Freude verbunden, einfach schön.
In der Kirche war ich zu Hause und geborgen. Ich fühlte eine Atmosphäre, die ungemein wohltuend war. Alles hatte einen tiefen Sinn. So auch die Fastenzeit, in der mir der leidende Jesus so nahe kam und erst recht das Osterfest.
Als ich schon älter war, entzückten mich liturgische Texte, die geradezu wunderbaren. Ich liebte die Feier der Heiligen Messe, die Segensandacht am Sonntag Nachmittag mit der Aussetzung des Allerheiligsten. Der Weihrauch gab ein tiefes Gefühl von Andacht. Es war so gut, in der Kirche zu sein.
Während des Krieges habe ich dann die Kirche in besonderer Weise als Gemeinschaft erlebt - eine prägende Erfahrung. In der Nazizeit war das durchaus gefährlich: Jeder Gottesdienst stand unter einem gewissen Risiko. Wir hatten damals einen äußerst mutigen Kaplan, bei dem wir, eine Gruppe von etwa sieben, acht Mädchen, uns regelmäßig trafen. Er hat uns in die Schrift eingeführt und viele Fragen, die uns Jugendliche betrafen, angeschnitten und regelmäßig mit uns eigene Abendmessen gefeiert. Und dann die Stunden der Nachtanbetung. Ich habe viele Stunden in der Nähe des eucharistischen Herrn gelebt.
Daß er so viel gewagt hat, gab uns jungen Leuten Mut. Es hat uns das Gefühl von Stärke vermittelt: Wir sind keine Nazi, wir sind Christen! Unsere Gruppe war eine verschworene Gemeinschaft. Wir hatten immer Zeit füreinander. Viele Nachtstunden sind da für Gespräche aufgegangen, an eine Hausecke gelehnt, bevor wir dann nach Hause gegangen sind.
Im Jahr 1943 hatten wir die wahnwitzige Idee, eine Wallfahrt nach Mariazell zu machen. Der Kaplan in Zivilkleidung. Im Zug haben wir ihn nicht angesprochen und untereinander ist auch kein Wort von Kirche gefallen. Mariazell - eine Sensation! Wohnen in einer Herberge. Alles war aufregend. Und dann das erste Mal in der Basilika: atemberaubend. Wir haben diese Erfahrungen in uns aufgesogen, sie haben unsere Gemeinschaft enorm gestärkt. Diese Wallfahrt hat sehr dazu beigetragen, daß unsere Gruppe wie eine Familie erlebt wurde.
Das hat uns dann auch sehr geholfen, gemeinsam das Jahr 1945 durchzustehen, den Einmarsch der Russen. Ohne diese tragende Gemeinschaft wäre jede von uns viel, viel ärmer gewesen.
Damals ereignete sich das Drama des Brünner Todesmarsches, der an unserer Grenze endete. Die Menschen schleppten sich mit letzten Kräften bis zu uns. Auf dem Platz vor dem Pfarrhaus brachen sie zusammen. Erschöpft, verzweifelt baten sie händeringend um Hilfe. Wo war Gott? War Er in diesen Menschen als der gequälte, gepeinigte Jesus?
Wir wußten nicht, was sich jenseits der Grenze abgespielt hatte, es gab ja keine Information. Bald aber wußten wir es. Welches Grauen!
Der Pfarrer nahm Menschen auf, so viele, wie das große Haus vom Keller bis zum Dachboden fassen konnte. Viele Familien aus der Bevölkerung nahmen ebenfalls Vertriebene auf. Evangelium pur: Der Mann von damals zwischen Jericho und Jerusalem war jetzt zwischen Brünn und uns.
Im Pfarrhaus wurde in einem Kessel Suppe gekocht, die Menschen waren nahezu verdurstet. Der Pfarrer ging Tag für Tag in die Häuser und bettelte um Lebensmittel. Unsere Kirche war gleichzeitig Asyl und sie bot auch Sicherheit vor den Soldaten der Besatzung. Unsere Priester gingen im Talar, denn so wurden sie von den Besatzern respektiert.
Dann brach die Ruhr und Typhus aus. Viele starben. Das Elend war maßlos. Medizinisch wurde geholfen, soweit in der zerstörten Apotheke Medikamente und Behelfe zu finden waren. Die Priester haben ein Sanitätshelferteam zusammengestellt und viele gerettet. Die Kirche war ganz bei den Menschen. Sie war das rettende Schiff. Gott war nahe wie noch nie in diesen Hilflosen. Unter diesen kuriosen Umständen haben wir geholfen und zu retten versucht.
Es hat mich ins Innere getroffen: Die Kirche, Jesus und der leidende Mensch sind eine Einheit. Man kann sie nicht trennen. Wir waren Kirche für die Menschen um uns, für die Hungernden, die Bedrohten, für die Sterbenden.
Aufgrund all dieser Erfahrungen liebe ich die Kirche seit meiner Jugendzeit, weil sie mir Jesus schenkt, weil sie Ihn mir offenbart. Jesus und die Kirche - das ist für mich eine untrennbare Einheit. Er hat sie uns ja geschenkt. Und wenn ich denke, was Ihn das gekostet hat! Die Kirche ist dem Herzblut Jesu entsprungen. Nachdem er Seine Mutter dem Johannes anvertraut hatte und Er am Kreuz gestorben war, haben sie Ihm das Herz geöffnet.
Daher finde ich es richtiggehend deprimierend, auf welcher Ebene sich heute Debatten über die Kirche meist abspielen. Wenn Leute etwa sagen: Jesus ja - Kirche nein: das kann nur auf Unwissenheit beruhen. Meint man da etwa die Organisation? Äußere Strukturen? Das gehört ja überall, wo Leben ist, dazu.
Daß in menschlichen Strukturen alle Möglichkeiten für Fehler anzutreffen sind und Versagen stattfindet, ist doch nicht überraschend. Das kann doch jeder an sich selbst beobachten. Dazu genügt ein ehrlicher Blick auf die eigene Situation.
Sich von Fehlern in der Kirche zu distanzieren, ist einfach scheinheilig. Versagen in der Kirche hat es seit dem Urchristentum gegeben - und zwar durch das Versagen von Christen. Ich kann die Kirche nicht isoliert von mir sehen. Genauso kann ich sie allerdings auch nicht isoliert von Jesus sehen.
Dabei habe ich in meinem späteren Leben die Kirche durchaus nicht immer von ihrer wunderbaren Seite erlebt. Da wurde ich beispielsweise Opfer solcher Verleumdungen, daß ich nicht mehr in meiner Heimatpfarre zum Gottesdienst gehen konnte, sondern in eine weitergelegene Pfarre geflohen bin. Diese massiven Angriffe auf meine Person waren ein riesengroßer Schmerz. Aber auch das war Kirche.
In dieser Situation hat Jesus mir klar zu erkennen gegeben: Bestehen würde ich die Krise nur, wenn ich den Blick ganz fest auf Ihn gerichtet behalte. Und das habe ich getan: auf Jesus geblickt, und nicht davon abgelassen. Das gab mir die Kraft zum Durchhalten - möglichst ohne dauernd zu fragen: warum?, wieso gerade ich? Dabei war das eine Krise, die sich über Jahre hingezogen hat, Jahre, in denen ich die Geborgenheit, die mich in meiner Jugend getragen hatte, vermissen mußte - für eine alleinstehende Frau keineswegs einfach.
Den vollen inneren Frieden fand ich, als ich mein Schicksal bewußt angenommen habe. Das war ein Glaubensakt, geprägt von der Überzeugung: Dieser Weg muß einen Sinn haben, auch wenn ich ihn nicht erkenne. Denn Gott tut nichts Sinnloses. Daher geschehe Sein Wille.
Diese vielen Jahre der Wüstenwanderung haben mir zuletzt aber doch eine ganz neue Erfahrung von Kirche geschenkt: 1995 übersiedelte ich nach Wien, ins Priesterseminar. Nach dem Bombenattentat hat Kardinal Schönborn diese Übersiedlung forciert, um mich vor weiteren möglichen Attacken zu schützen. Dort durfte ich nach vielen Jahren der Einsamkeit erstmals wieder die Erfahrung von Kirche machen, wie ich das von früher kannte.
Seit einigen Jahren lebe ich nun in einem Altenheim in Pitten. Jetzt begreife ich alles immer besser und erlebe es nunmehr hier unter den alten und zum Teil behinderten Menschen in meiner Umgebung im Heim: Was ich an andere verschenke, indem ich auf sie zugehe, geschieht nicht nur jetzt hier. Es geschieht in der Kirche: Von meinem Leben des Evangeliums gehen Impulse aus. Nicht wir schaffen da etwas. Es ist der Heilige Geist, der in uns wohnt, wie Paulus schreibt. Wer sich an Gott bindet, wird ein Geist mit Ihm. Wir sind Leib Christi.
Diese Erfahrung weitet sich in meinem Inneren immer mehr. Eigentlich brauche ich nur noch zu sterben, um die letzte Weite zu erreichen. So glücklich bin ich im Erleben der Kirche. Mit einem Wort: Ich liebe die Kirche, weil ich Jesus liebe. Ich bin von der Kirche Christi entzückt, kann nur jubeln, daß es die Kirche gibt, so wie Jesus sie uns gibt.
Und in dieser Kirche haben alle Menschen Platz, alle Versager eine Chance der Heilung und der Wandlung - so wie die Jünger nach der Herabkunft des Heiligen Geistes zu Pfingsten verwandelt waren. Sie waren total andere geworden. Diese totale Wandlung ist die große Chance aller Sünder in der Kirche. Daher liebe ich diese Kirche der Sünder.