VISION 20002/2007
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„Ich habe zu wenig geliebt!"

Artikel drucken Gedanken zum Barmeherzigkeitssonntag am 15. April (Von Urs Keusch)

Wer ernsthaft sein Leben betrachtet, wird meist erkennen: “Ich habe zu wenig geliebt. Das sollte sich ändern." Der Sonntag nach Ostern bietet die Chance, uns von Gottes Barmherzigkeit wandeln zu lassen.

In der Erzählung “Hof der Matrjona" erzählt der russische Dichter Alexander Solschenizyn von einer alten russischen Bauernmagd, die ihr ganzes Leben lang ohne jede Entlohnung in der Landwirtschaft gearbeitet hat und dabei - trotz Armut und täglicher Plagerei - immer freundlich und fröhlich gewesen sei, und das bis an ihr Lebensende. Nie hat man sie klagen gehört, nie hat sie sich beschwert, zu wenig zu haben, nie hat sie Dinge ersehnt, die sie ohnehin nicht erlangen konnte. Im Gegenteil: immer sei sie hilfsbereit gewesen und zufrieden mit dem, was sie hatte. Nach ihrem Tode sagten die Leute: “Wir alle lebten neben ihr, begriffen aber nicht, daß sie eben jene ,Gerechte' war, ohne die ein Dorf, wie es in der Bibel heißt, nicht bestehen kann, auch keine Stadt, auch nicht ein ganzes Land. Es ist erschütternd, zuwenig geliebt zu haben!"

“Es ist erschütternd, zuwenig geliebt zu haben!!" - In der Tat: Der Mangel an Liebe ist das größte Unglück für die Welt, es ist das größte Unglück für jeden einzelnen Menschen. Wie oft schon habe ich als Seelsorger erlebt, daß Menschen am Abend ihres Lebens an dieser Einsicht, an dieser Selbsterkenntnis förmlich zerbrochen sind. “Ich habe zuwenig geliebt, meine Kinder, die Menschen um mich herum, darum diese Misere in meiner Familie... Ich halt' es nicht mehr aus!"

Und doch: Wie viele solcher Menschen gibt es! Und die Zahl wird immer größer. Wir haben es heute, was diese Seite der menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit betrifft, mit einem Massenphänomen zu tun. Und das kommt vor allem daher, daß wir uns in der westlichen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft der letzten 50 Jahre fast völlig an die irdischen, die materiellen Güter verloren haben: an ihre Versprechen von einem Paradies auf Erden, an die Versprechen vom endlosen Fortschritt, von ewiger Jugend, Schönheit, Gesundheit, materieller Sicherheit...

“Das alles will ich dir geben, wenn du..." Lesen wir bei Matthäus 4,9! Wir alle sind mehr oder weniger auf diese Versprechen hereingefallen. Der Friede des Herzens, jenes höchste Gut und Geschenk des Himmels, das die arme russische Magd so unendlich reich und schön machte: er ist uns weitgehend abhanden gekommen! Es bewahrheitet sich, was der Heilige Franz von Sales den Menschen über den Frieden Gottes sagte: “Das Evangelium und die Kirche sind nur Friede, Güte und Ruhe. Außerhalb der Befolgung des Evangeliums und des Gehorsams gegen die Kirche gibt es nichts als Krieg und Aufregung."

Fortschritt, Fortschritt - aber wohin? Für viele war es ein Fortlaufen von den stillen Segnungen und Tugenden des einfachen Lebens: immer weniger Familie, weniger Gemeinschaft, weniger Herzlichkeit, weniger Nächstenliebe. Immer weniger Seele, weniger Kreativität, weniger Selbstwert und Selbstachtung. Immer weniger Glauben, weniger Hoffnung, weniger Liebe, weniger Vater, weniger “Abba, lieber Vater".

So kann der Mensch nicht leben! Mit diesem ganzen ruhelosen Gerangel um mehr Geld, mehr Genuß, mehr Schönheit, mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Erfolg, mehr Haus, mehr Land... kann der Mensch nicht leben. Er läuft sich zu Tode. Der Mensch ist für die Liebe geschaffen. Die Welt kann nicht existieren ohne Liebe. “Gott hat die Welt geschaffen, daß Liebe sei" (Benedikt XVI.). Wenn der Mensch sich nicht früh in seinem Leben für die Liebe entscheidet, für ein Leben in der Liebe mit Jesus Christus: für eine Liebe, die verzichten, die vergeben, die teilen, die zusammenrücken, bisweilen auch schwere Opfer bringen kann - wenn das ein Mensch nicht bald in seinem kurzen Leben lernt und einübt, bewegt er sich unmerklich auf eine schwere Lebensenttäuschung zu, die bisweilen grausam und voller Tragik ist.

Denn er wird auf einmal gewahr, daß ihm die Sonne dieses Lebens für immer untergeht und daß ihm keine neue aufgehen will: Daß seine Tage immer dunkler und einsamer werden und daß sich nirgendwo mehr das Lichtlein einer großen Verheißung und Hoffnung ankündigt. Es wird in seinem Leben “Nacht und immer mehr Nacht" (Nietzsche).

Und die ewige Wahrheit läutet mit schweren Glocken hinein in seine trostlose Verlassenheit: Du Mensch, Du hast eine höhere Berufung und Bestimmung als bloß biologischen Zwecken zu dienen! Du bist für unendlich Größeres gedacht, als bloß für ein paar Jahrzehnte ein Zahnrädchen zu sein in der Maschinerie einer herzlosen Wirtschaft. Du bist berufen zur Liebe, zur ewigen Liebe, und erst wenn Du gelernt hast, in ihre Bewegung einzuschwingen, hast Du den Sinn des Lebens gefunden.

Und hier, an diesem Punkt, an dieser Wegkreuzung, genau an diesem Ort der Enttäuschung steht der herrliche und barmherzige Christus mit seiner erbarmenden Einladung: “Kehr um! Hier beginnt für Dich das Himmelreich!" (vgl Mt 3,2) Und die Erfahrung beweist es tausendfach: Hier kann für viele Menschen der wunderbare, der gnadenhafte Anfang für ein ganz neues Leben sein! “Die Grenze des Menschen ist stets das Einbruchstor Gottes" (Gertrud von Le Fort).

Ja, diese Enttäuschung muß gewissermaßen sein, denn sie nimmt von uns die Täuschung dieses Lebens und öffnet uns für die Erfahrung der wahren Wirklichkeit. Ohne diese Enttäuschung ist für viele Menschen eine Wiedergeburt oft gar nicht möglich im Leben. Ohne diese Lebensenttäuschung kann die Gnade gar nicht in unser Gefängnis aus Eitelkeit, Hochmut, Sinnlichkeit, Überheblichkeit, Ichsucht, Habsucht und Mammonismus einbrechen. Diese Gnade sucht jeden Menschen ein ganzes Leben lang heim. François Mauriac hat das wunderbar zum Ausdruck gebracht: “Das ist das Geheimnis der Gnade: es ist nie zu spät!"

Im Namen Jesus Christi kann ich die Menschen, die eine solche Lebensenttäuschung erleben oder erlebt haben (mit ihren Kindern, ihrem Partner, im Beruf usw.), nicht genug ermutigen: Ergreifen Sie diese Gnade, auch wenn Sie schon 60, 70, 80 oder 90 oder 100 Jahre alt sind! Ergreifen Sie diese wunderbare Gnade, die alles neu macht in Ihrem Leben und die Ihnen den Himmel öffnet auf Erden.

Weisen Sie jedes Gefühl der Verzweiflung von sich! Suchen Sie Menschen auf, die Ihnen helfen, die erbarmende Liebe Gottes in Ihrem Leben ganz neu zu finden und zu erfahren. Lesen Sie gute Bücher, die Sie im Glauben ermutigen und bestärken. Geben Sie dem Fernseher nicht mehr so viel Raum und Macht in ihrem Leben wie bisher. Fangen Sie an zu beten, Sie werden so die Pforte zum Paradies finden, wie die Kirchenväter sagen, Sie werden eintreten in den Raum der Liebe und des Friedens und Sie werden Wunder erfahren in Ihrem Leben.

Nichts sei Ihnen wichtiger als das Gebet! Wer betet, ist gerettet. Wer betet, erfährt die Liebe und Nähe Gottes und er wird selbst anfangen, die Menschen zu lieben, die Tiere, das Leben, die Kinder, die Kirche, die ganze Welt. Die Sorgen werden keine erdrückende Macht mehr über ihn haben. Und wenn die eigenen Kinder oder die Enkel keinen guten, keinen schönen Weg gehen, dann werden Sie diese im Gebet der Liebe und dem Erbarmen Gottes anvertrauen und Sie werden wieder ruhig schlafen können. Sie werden sich kaum mehr Sorgen machen, was die Zukunft bringen mag, denn sie ist in der Liebe Gottes geborgen.

Lieben Sie das Gebet aus ganzem Herzen! “Durch das Gebet erleben wir das größte aller Wunder, den Himmel auf Erden... Ein einziges schlichtes Gebet zu Jesus hat mir mehr geholfen als alle Meditation." So der Inder und Christuszeuge Sundar Singh. Wer zum Gebet findet, findet zu Christus, und wer zu Christus findet, findet zum Frieden. Und Christus wird sein kaputtes Leben neu machen, neu schaffen, seinen Scherbenhaufen verwandeln in einen Haufen Diamanten und Perlen, seine Lebenskatastrophe in ein Osterfest.

Es wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen enttäuschten, vielleicht ganz alten Menschen, der zum Gebet zurückfindet, als über 99 Mönche oder Klosterfrauen, die schon seit Ewigkeit beten. Daß das wirklich stimmt, was ich hier schreibe: lassen Sie sich überzeugen von einer Expertin in Sachen Liebe und Barmherzigkeit, nämlich von der Heiligen Faustyna. Sie schreibt in ihrem Tagebuch:

“Wenn Jesus in einer Seele den Funken guten Willen sieht, eilt Er, sich ihr hinzugeben und kann durch nichts aufgehalten werden, weder durch Fehler noch durch die Sünde, durch gar nichts. Jesus hat es eilig, einer solchen Seele zu helfen und wenn die Seele treu zu Gottes Gnade steht, gelangt sie in ganz kurzer Zeit zu höchster Heiligkeit, wie sie ein Geschöpf hier auf Erden erlangen kann. Gott ist sehr freigiebig und versagt seine Gnade niemandem. Er schenkt mehr, als wir erbitten."

Ich möchte alle Leser einladen, sich auf die herrliche Gnade des Barmherzigkeitssonntages mit der Novene zur Göttlichen Barmherzigkeit vorzubereiten. Die Einladung, die Jesus an Sr. Faustyna richtet, gilt jedem von uns: “Sammle alle Sünder der ganzen Welt und tauche sie ein in den Abgrund meiner Barmherzigkeit. Ich will mich den Seelen hingeben, Mich verlangt es nach Seelen. An Meinem Festtag, am Tag der Barmherzigkeit, wirst du die ganze Welt durchstreifen und wirst ohnmächtige Seelen zur Quelle Meiner Barmherzigkeit bringen. Ich werde sie heilen und stärken...

An diesem Tag ist das Innere Meiner Barmherzigkeit geöffnet; Ich ergieße ein ganzes Meer von Gnaden über jene Seelen, die sich der Quelle Meiner Barmherzigkeit nähern. Jene Seele, die beichtet und die heilige Kommunion empfängt, erhält vollkommenen Nachlaß der Schuld und der Strafen; an diesem Tag stehen alle Schleusen Gottes offen, durch die Gnaden fließen. Keine Seele soll Angst haben, sich Mir zu nähern, auch wenn ihre Sünden rot wie Scharlach wären."


Gebet zum Barmherzigkeitssonntag

JESUS, der Du die Liebe bist,

Liebe und Sehnsucht,

Sehnsucht und Erbarmen:

Wir bringen vor Dich die ganze Welt: uns selber, unsere Familien, unsere Freunde, vor allem aber all jene Menschen,die noch fern sind von Dir.

Erbarme Dich über uns alle, schaff' uns neu in Deiner österlichen Liebe.

Laß keinen Menschen verloren gehen, sondern ziehe in Deinem Erbarmen alle an Dein liebendes Herz, zum Quell der Barmherzigkeit.

Gieße den Strom Deiner Barmherzigkeit - den Heiligen Geist der Liebe und der Freude - über Deine ganze Schöpfung aus: Laß sie in österlicher Freude zu neuer Hoffnung auferstehen!

Weise zurück alle Mächte des Bösen in der Welt und in unseren Herzen!

Denn Du bist der Sieger,

Du der König der Liebe,

Du das grenzenlose Erbarmen

Deines und unseres lieben Vaters.

Ihn loben und preisen wir durch Dich, den auferstandenen Herrn,in der Freude und in der Liebe des Heiligen Geistes. Amen


Ablaß am Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit

Der Ablaß am Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit wird unter den gewohnten Bedingungen (Beichte* mit entschlossener Abkehr von jeder Sünde, Kommunionempfang und Gebet nach der Meinung des Heiligen Vaters: Vaterunser und ,Gegrüßet seist du, Maria' oder ein anderes Gebet nach freier Wahl) dem Gläubigen gewährt, der in einer Kirche oder einem Oratorium an einer Feier zu Ehren der göttlichen Barmherzigkeit teilnimmt oder wenigstens vor dem Allerheiligsten das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis mit dem Zusatz einer kurzen Anrufung des barmherzigen Herrn Jesus (z.B. Barmherziger Jesus, ich vertraue auf dich!) betet.

Ein Teilablaß wird dem Gläubigen gewährt, wenn er mit reuigem Herzen eine der rechtmäßig genehmigten Anrufungen an den barmherzigen Herrn Jesus richtet.

AAS 94, 2002, 634 - 636

*Das Sakrament der Hl. Beichte muss nicht am Festtag selber, sollte aber möglichst nah zum Fest empfangen werden.

Gedanken zum Barmherzigkeitssonntag am 15. April

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