In Europa ist zuerst der Begriff der Menschenrechte formuliert worden. Das grundlegende Menschenrecht, die Voraussetzung für alle anderen Rechte, ist das Recht auf das Leben selbst. Das gilt für das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende. Abtreibung kann demgemäß kein Menschenrecht sein - sie ist das Gegenteil davon. Sie ist eine “tiefe soziale Wunde", wie unser verstorbener Mitbruder Kardinal Franz König zu betonen nicht müde wurde.
Mit alledem sprechen wir nicht von einem speziell kirchlichen Interesse. Vielmehr machen wir uns zum Anwalt eines zutiefst menschlichen Anliegens und zum Sprecher der Ungeborenen, die keine Stimme haben. Ich verschließe nicht die Augen vor den Problemen und Konflikten vieler Frauen und bin mir dessen bewußt, daß die Glaubwürdigkeit unserer Rede auch davon abhängt, was die Kirche selbst zur Hilfe für betroffene Frauen tut.
Ich appelliere deshalb an die politisch Verantwortlichen, nicht zuzulassen, daß Kinder zu einem Krankheitsfall gemacht werden und daß die in Ihrer Rechtsordnung festgelegte Qualifizierung der Abtreibung als ein Unrecht faktisch aufgehoben wird. Ich sage das aus Sorge um die Humanität. Aber das ist nur die eine Seite dessen, was uns Sorgen macht. Die andere ist, alles dafür zu tun, daß die europäischen Länder wieder kinderfreundlicher werden. Ermutigen Sie die jungen Menschen, die mit der Heirat eine neue Familie gründen, Mütter und Väter zu werden. Damit tun Sie ihnen selbst, aber auch der ganzen Gesellschaft etwas Gutes.
Wir bestärken Sie auch nachdrücklich in Ihren politischen Bemühungen, Umstände zu fördern, die es jungen Paaren ermöglichen, Kinder aufzuziehen. Das alles wird aber nichts nützen, wenn es uns nicht gelingt, in unseren Ländern wieder ein Klima der Freude und der Lebenszuversicht zu schaffen, in welchem Kinder nicht als Last, sondern als Geschenk für alle erlebt werden.
Mit großer Sorge erfüllt mich auch die Debatte über eine aktive Sterbehilfe. Es ist zu befürchten, daß eines Tages ein unterschwelliger oder auch erklärter Druck auf schwerkranke und alte Menschen ausgeübt werden könnte, um den Tod zu bitten oder ihn sich selbst zu geben. Die richtige Antwort auf das Leid am Ende des Lebens ist Zuwendung, Sterbebegleitung - besonders auch mit Hilfe der Palliativmedizin - und nicht “aktive Sterbehilfe". Um eine humane Sterbebegleitung durchzusetzen, bedürfte es freilich baldigst struktureller Reformen in allen Bereichen des Medizin- und Sozialsystems und des Aufbaus palliativer Versorgungssysteme.
Es bedarf aber auch konkreter Schritte: in der psychischen und seelsorglichen Begleitung schwer Kranker und Sterbender, der Familienangehörigen, der Ärzte und des Pflegepersonals.
Die Hospizbewegung leistet hier Großartiges. Jedoch kann nicht das ganze Bündel solcher Aufgaben an sie delegiert werden. Viele andere Menschen müssen bereit sein bzw. in ihrer Bereitschaft ermutigt werden, sich die Zuwendung zu schwer Kranken und Sterbenden Zeit und auch Geld kosten zu lassen.
Auszug aus der Ansprache bei der Begegnung mit den Autoritäten und dem Diplomatischen Korps in der Wiener Hofburg am 7. September 2007